Der Umzug von Chicago nach London führt bei unserem Korrespondenten zu Irritationen. Er hat sich in den USA daran gewöhnt, dauernd in Smalltalk verwickelt zu werden. Nun empfindet er die Briten als schweigsam bis abweisend.
Nicht dass die Briten unhöflich wären. Aber sie achten die Privatsphäre und meiden den Blickkontakt. Bild: Angestellte auf dem Weg zur Arbeit im Zentrum Londons.
Daniel Berehulak / Getty
Wie zurückhaltend die Leute sind! Das ist das Erste, was auffällt, wenn man von den USA nach Grossbritannien kommt. In Amerika wird keine Gelegenheit zum Smalltalk ausgelassen, sei es im Lift, an der Kasse oder in einer Warteschlange. Was besonders charmant ist: Oft eröffnet man die Konversation mit einem Kompliment. Wildfremde Leute sagen im Vorbeigehen: «Schöne Schuhe» oder «Ich mag Ihren Hut». Dazu gehört auch die Hilfsbereitschaft. Blickt man – offensichtlich desorientiert – in einer amerikanischen Stadt abwechslungsweise auf die Strassenschilder und das Handy, dauert es nicht lange, bis jemand fragt: «Suchen Sie etwas?»
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In Grossbritannien wird der Plauderei eher aus dem Weg gegangen; so jedenfalls der erste Eindruck. In der U-Bahn zum Beispiel vermeidet man den Blickkontakt; grüsst man in der Nachbarschaft Leute, erntet man befremdete Blicke.
Würde ein Wildfremder in London seine Schuhe loben, wäre sein erster Gedanke, dass er sie vielleicht stehlen wolle, erklärt ein Brite beim Gespräch über diese Unterschiede. Oder dass er ihn ablenke, damit sie sein Kumpel stibitzen könne.
Bloss niemandem zu nahe treten
In dieser Hinsicht ähnelt die Schweiz wohl eher Grossbritannien als Amerika. Nicht dass die Menschen unfreundlich wären. Sie sind höflich, aber vielleicht schüchtern. Sie wollen niemandem zu nahe treten, die Privatsphäre missachten oder aufdringlich wirken. Verlegenheit bei einem unvorhergesehenen Kontakt scheint verbreitet zu sein, und wahrscheinlich ist es rücksichtsvoll, den andern vor diesem peinlichen Gefühl zu bewahren, das man selbst so gut kennt.
In den USA überhäuft man sich gegenseitig mit Lob, preist sich aber auch selbst gerne an. In Grossbritannien kommt das schlecht an. Man übt sich in Understatement. Bloss nicht als Bluffer wirken. Entsprechend ist den Briten der Enthusiasmus fremd, der in den USA selbst dann ausbricht, wenn es die Tochter schafft, heil die Rutschbahn herunterzukommen. «Awesome!», schreien dann alle.
Der Unterschied zeigt sich auch beim Umgang mit Dimensionen. Während in den USA «size matters» gilt und alles, selbst die Kühlschränke und die Milchpackungen, riesig ist, gilt in Grossbritannien eher «small is beautiful». Die breitspurigen SUV und Pick-ups, in Amerika so beliebt, findet man in London kaum.
In den USA werden viel zu grosse Portionen serviert. Dafür kann man dann einen «doggy bag» verlangen und den Rest nach Hause nehmen. Der «refill» ist in London nicht üblich, während man sich in den USA vielerorts den Cola-Becher mit ganz viel Eis so oft auffüllen lassen kann, wie man möchte. Was in Grossbritannien übrigens als «regular coke» gilt, wäre in den USA das «small coke» im Kindermenu.
Paradoxerweise sind die Portionen in Grossbritannien zwar kleiner, dafür kann man länger sitzen bleiben. Dazu passt, dass nicht alle mit einem Kaffeebecher durch die Strassen rennen. Man trinkt Tee, im Sitzen. Denn «tea time» bedeutet auch «calm down» – sich beruhigen, sich Zeit nehmen. Angesichts der britischen Ess- und Trinksitten ist es nur logisch, dass auch «drive-thru»-Restaurants im Vereinigten Königreich kaum verbreitet sind.
Genug ist nicht genug
Amerika übertreibt gerne. Es ist nie genug. Kaffee mit Milch und Zucker reicht nicht; es braucht weitere Zusätze, sei es Pumpkin-Spice, Caramel, Vanille, Peppermint oder Amaretto. Dasselbe beim Bier. Nichts mit Reinheitsgebot. Es wird hemmungslos mit Passionsfrucht, Orange, Guave oder noch Ausgefallenerem versetzt. In einem Diner oder einer Bar, die etwas auf sich halten, muss laute Musik laufen und der Fernseher, am besten verschiedene Programme auf mehreren Bildschirmen. Damit nur ja keine Langeweile aufkommt. Grossbritannien pflegt auch in dieser Hinsicht das Understatement: «Keep it simple.»
Die Kehrseite der britischen Zurückhaltung und Höflichkeit ist eine gewisse Umständlichkeit, die zu Unklarheiten und Missverständnissen führen kann. Wenn jemand sagt: «Das war nicht schlecht», meint er dann, in typischer Zurückhaltung, dass es super war? Oder ist es eine höfliche Umschreibung für «Das war wirklich schrecklich»? Da ist die hemdsärmelige Direktheit der Amerikaner doch erfrischend klar.
Erschwerend kommt in Grossbritannien die allgegenwärtige Frage der Klassenzugehörigkeit hinzu. Jede Schicht hat ihren eigenen Akzent, ihre eigenen Codes und Regeln. In den USA ist es oft schwierig, aufgrund des Äusseren und der Sprache zu erraten, wo auf der sozialen Leiter jemand steht. In Grossbritannien verrät der Akzent die Herkunft, denn man wird ihn, unabhängig von Bildung und Verdienst, im Lauf des Lebens kaum los, vergleichbar mit dem Dialekt in der Schweiz.
Lebensrettung ja, aber nicht überstürzt
Das alles hat auch mit dem historischen Erbe zu tun, das in den USA weniger schwer wiegt. Vielleicht sind es diese Last der Geschichte sowie das dauernde Bedachtsein auf die Klassenzugehörigkeit, die zu einer gewissen Steifheit und Kompliziertheit führen können. Vermutlich umfasst nirgendwo sonst ein Mietvertrag über vierzig Seiten, wobei einem der Makler noch zusätzliche Details erklärt wie zum Beispiel, dass man den Grill nur unter gewissen Umständen benutzen dürfe. Oder dass es besser sei, den Vermieter nicht zu fragen, ob man im Garten rauchen dürfe. Das Leben als Eiertanz. Vielleicht erklärt diese Verkrampftheit auch, warum Briten mehr Alkohol brauchen als Amerikaner, um sich zu lockern.
Unübertroffen sind die «Emergency Throwbags» entlang der Themse, eine Art Boje mit Wurfleine. Wenn man jemanden ertrinken sieht und es zufällig einen Throwbag in der Nähe gibt, dann muss man laut den Anweisungen auf der Tafel Folgendes tun: Man wählt 999, fragt nach dem Fire-Service, und wird mit der zuständigen Person verbunden. Ihr teilt man dann den Ortscode mit, den man unten links findet, also zum Beispiel LDN35. Darauf erhält man einen weiteren Code, mit dem man die Box öffnen kann. Eine Anweisung in acht Punkten erläutert die nächsten Schritte. Dazwischen erfährt man, dass man sich vom Wasser fernhalten soll und schwimmen zu einem Kälteschock führen kann.
Ein «Throwbag» mit Erläuterungen am Flussufer in Kingston upon Thames.
dai.
Ob auch erwartet wird, dass man die Ansprechperson beim Notruf zuerst höflich begrüsst, sich nach ihrem Befinden erkundigt, eine launige Bemerkung zum Wetter macht und sich für die Störung entschuldigt? Wahrscheinlich darf man am Ende des Gesprächs auch nicht vergessen, sich zu bedanken und einen schönen Tag zu wünschen. Falls der Ertrinkende dann noch lebt, sollte man wohl nachfragen, ob er sich nicht belästigt fühlt, wenn man ihm die Boje zuwirft, und ob er überhaupt eine Rettung wünscht.
Ein Amerikaner – und selbst ein Schweizer – fragt sich, warum es nicht einfach, wie anderswo, Rettungsringe gibt, die man ohne grosses Hin und Her ins Wasser werfen kann. Aber diese Frage wäre in Grossbritannien möglicherweise zu direkt, also unangemessen.