Seit seinem endgültigen Durchbruch mit „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang“ (2006) liefert der für „Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft“ oscarnominierte Blockbuster-Auteur Mamoru Hosoda alle drei bis vier Jahre einen neuen Film. Für Anime-Fans ist das jedes Mal ein Ereignis, dem schon im Voraus monatelang entgegengefiebert wird. Deshalb ist es auch verständlich, dass bei der Weltpremiere von „Scarlet“ beim Filmfest in Venedig noch mehr als bei allen anderen Filmen darauf geachtet wurde, dass bloß niemand die Leinwand abfilmt. Wer sein Handy auch nur für eine Sekunde herausgeholt hat, um etwa auf die Uhr zu schauen, wurde sofort mit einem grünen Laserpointer angestrahlt, bis er es wieder weggesteckt hat.

Der Vorab-Hype ist also real! Aber wie begeistert die Fans dann am Ende wirklich sein werden, bleibt noch abzuwarten. Das überwiegend in einer jenseitigen Welt namens Otherworld angesiedelte Fantasy-Epos liefert gewohnt spektakuläre Bilder, etwa wenn Tausende Menschen die Pforten zur Treppe der Ewigkeit niederzureißen versuchen oder am Himmel ein gigantisches elektrifiziertes Drachenwesen voller noch in seiner schuppigen Haut steckender Schwerter und Speere entlangschwebt. Zugleich ist die Anti-Kriegs-Botschaft im Vergleich zu früheren, subtileren Filmen des Regisseurs derart offen ausbuchstabiert, dass sicherlich nicht wenige „Scarlet“ auch als ein etwa zu naives Fantasy-Märchen wahrnehmen werden.

Scarlet erwacht in der Otherworld als furioser Racheengel!

Sony Pictures

Scarlet erwacht in der Otherworld als furioser Racheengel!

„Scarlet“ beginnt wie ein mittelalterliches Shakespeare-Drama in einem europäischen Schloss: Der gütige König Amulet (Stimme im Original: Masachika Ichimura) will Frieden um jeden Preis und ist deshalb auch zu Kompromissen mit seinen Nachbarn bereit. Sein Bruder Claudius (Kôji Yakusho) hingegen will Macht um jeden Preis – und lässt den König deshalb wegen Hochverrats von vier Henkern hinrichten. In letzter Sekunde spricht der zum Tode Verurteilte noch ein paar Worte, aber diese gehen im Geschrei der Menge unter, weshalb seine Tochter sie nicht verstehen kann. Als die Prinzessin Scarlet (Mana Ashida) ihren Onkel mit seinen Machenschaften konfrontiert, wird auch sie mit Gift aus dem Weg geräumt.

Der Großteil von „Scarlet“ spielt dann allerdings nach dem Tod der Protagonistin, als diese in der Otherworld erwacht: Hier treffen die Toten vieler Jahrhunderte aufeinander, bevor sie sich irgendwann in Nichts auflösen oder aber die Ewigkeit erreichen. Daran hat Scarlet allerdings gar kein Interesse, sie strebt allein nach Rache an den Peinigern ihres Vaters – zumindest bis sie den aus der heutigen Zeit stammenden Rettungssanitäter Hijiri (Masaki Okada) trifft, der Scarlet mit seiner immer hilfsbereiten, streng pazifistischen Art zunehmend zum Nachdenken bringt…

Zyniker*innen sind hier definitiv im falschen Film

Nach einigen typischen Dark-Fantasy-Scharmützeln, bei denen sich die zierliche Scarlet etwa einem der hünenhaften Henker des Königs im Faustkampf entgegenstellt, wird zunehmend immer deutlicher, dass diese Otherworld nicht nur das übliche Personal von Märchen-Erzählungen beheimatet. Stattdessen treffen in diesem Jenseits die Verstorbenen aller Zeiten und Orte aufeinander. So steckt einmal eine hawaiianische Hula-Tänzerin auch die hartgesottensten Kämpfer mit ihren rhythmischen Bewegungen an …

… und nach etwa der Hälfte der Laufzeit gibt es zur gnadenlos Ohrwurm-Qualitäten entwickelnden Softpop-Ballade „Tell Me About Love“ sogar eine Art universumsübergreifenden Dance-Flashmob. Da werden zumindest ganz entfernte Erinnerungen an die Raum und Zeit auflösende Jazz-Sequenz aus „Blood & Sinners“ wach. Nach dem düsteren Auftakt mit einem bis ins Jenseits hineinreichenden Shakespeare’schen Rache-Drama setzt Mamoru Hosoda diesem zunehmend seine Ideen von Liebe und Zusammenhalt entgegen. Diese verfolgt er natürlich schon seit Beginn seiner Karriere, aber die Umsetzung ist diesmal – vor allem in der Figur des Krankenpflegers Hijiri – ein Stückweit plumper als üblich geraten.

Der aus unserer Zeit stammende Rettungssanitäter Hijiri entwickelt sich zum vermittelnden Gegenpol für die rachsüchtige Protagonistin.

Sony Pictures

Der aus unserer Zeit stammende Rettungssanitäter Hijiri entwickelt sich zum vermittelnden Gegenpol für die rachsüchtige Protagonistin.

Ganz so direkt ins Herz wie „Summer Wars“ oder „Mirai“ geht der Kampf von Scarlet, sich ihres scheinbar unstillbaren Rachedurstes zu entledigen, deshalb diesmal nicht. Aber auch abseits der erneut herausragenden Animationen, die mit ihrem Mix aus handgezeichnet anmutenden Figuren und fast schon nach Fotorealismus strebenden Hintergründen gerade der Otherworld eine faszinierende Andersartigkeit verleihen, gibt es auch so genügend Einfälle: So entpuppt sich eine mysteriöse alte Frau (Kayoko Shiraishi) als eine Art Jenseits-Yoda, die ihre Popel wie eine Art Handgranaten einsetzen kann.

Fazit: Ein ebenso bildgewaltiges wie eingängiges Pazifismus-Plädoyer, das zwar motivisch eher in bekannten Märchen- und Dark-Fantasy-Gefilden fischt und deshalb auch nicht an die besten Filme von „Summer Wars“-Mastermind Mamoru Hosoda heranreicht, dafür aber mit einem absoluten Banger-Song als die Jahrhunderte überwindendes Ohrwurm-Centerpiece aufwartet.

Wir haben „Scarlet“ beim Venedig Filmfestival 2025 gesehen, wo er außer Konkurrenz seine Weltpremiere gefeiert hat.