Sarah Levy schreibt über ihr Leben in Israel als neu Eingewanderte. In ihrem Buch „Kein anderes Land“ reflektiert sie über eine Gesellschaft, die vor lauter Traumata immer radikaler wird – und es liberalen Stimmen zunehmend schwer macht

„Meine größte Angst ist, dass das Radikale hier gewinnt.“ Israelis blicken von einer Plattform aus Richtung Gaza, Juli 2025

Foto: Lucien Lung/Riva Press/laif

Vor sechs Jahren machte Sarah Levy „Aliyah“: Sie wanderte als Jüdin nach Israel aus. Ihre Erfahrungen als Neueinwanderin verarbeitete sie im Buch Fünf Wörter für Sehnsucht (Rowohlt 2022). Im Sommer 2023 fing sie wieder an zu schreiben: über ihr Land, das gerade dabei war, im Konflikt über eine Justizreform zu zerreißen. Dann kam der Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober – und der seither andauernde Krieg. Ihre Erlebnisse der vergangenen zwei Jahre hat Sarah Levy wieder in einem Buch verarbeitet: Kein anderes Land (Rowohlt 2025, 336 S., 24 €).

der Freitag: Frau Levy, es gibt einen Satz in Ihrem Buch, der sich mir eingeprägt hat: „Dieselbe Armee, die mich, mein Kind, meinen Partner schützt, ist die Armee, die innerhalb kürzester Zeit Zehntausende Palästinenser getötet hat.“ Wie hält man diese Gleichzeitigkeit aus?

Sarah Levy: Das ist tatsächlich etwas, was ich in Israel gelernt habe. Als ich 2019 Aliyah machte, verschwendete ich ehrlicherweise wenig Gedanken an die Besatzung. Ich hatte zuvor zwei politische Reisen durch das Westjordanland gemacht, aber was die Unterdrückung der Palästinenser im Alltag bedeutet, verstand ich erst, als mein Hebräisch besser wurde und ich die israelischen Nachrichten verstand – auch die, die nicht im Fernsehen gezeigt werden. Und ich begann zu verstehen, was für eine extreme Gehirnakrobatik es ist, als Israeli damit zu leben.

In Ihrem Buch suchen Sie genau darüber oft das Gespräch mit Ihren Freunden und Verwandten.

Es gibt ein Gespräch mit meiner israelischen Schwiegermutter, wo sie sagt, es geschieht ihnen recht, was in Gaza passiert. Ich finde das menschenverachtend, und dafür kann ich sie verurteilen. Aber ich kann sie nicht dafür verurteilen, die Hoffnung verloren zu haben. Das ist der Konflikt hier: Man hat die Erfahrungen der Menschen der vergangenen Jahrzehnte und gleichzeitig das, was die Armee anderen Menschen antut. Es ist eine Gleichzeitigkeit, die man oft nur mit blinden Flecken aushalten kann.

Was bedeutet das für das Land?

Die israelische Gesellschaft hat sich nie entschieden, sind wir ein demokratischer Staat oder ein jüdischer? Diese Widersprüche finde ich in den Identitäten jüdischer Israelis, die mich umgeben. Viele haben das Gefühl, sie müssten sich entscheiden, wie jüdisch bin ich, wie sehr bin ich Israeli? Wie wichtig ist es mir, mit meinen arabischen Nachbarn zusammenzuleben? Diese zwei Identitäten widersprechen sich oft. Es ist kompliziert, Israeli zu sein. Und mit einer Regierung wie der Netanjahus, die nicht für Dialog ist, ist es noch viel schwieriger.

Ich kann als neu Eingewanderte viele Traumata nicht nachempfinden, die meine Schwiegermutter zum Beispiel hat.

Sie sagen, Sie haben in Israel gelernt, diese Komplexität auszuhalten. Aber vielen Israelis scheint das schwerzufallen. Wie erklären Sie sich das?

Die meisten meiner Freunde waren in der Armee, ich nicht. Vielleicht war der erste Kontakt, den sie mit Arabern hatten, an einem Checkpoint. Als 19-jähriger Mensch. Dieses Machtgefälle prägt. Und das führt womöglich dazu, Dinge zu akzeptieren, die nicht in Ordnung sind. Ich will das nicht entschuldigen, aber so ist die Gesellschaft hier gebaut. Manche Freunde sagen, die Armee sei die prägendste Zeit ihres Lebens gewesen. Kritik an der Armee ist unheimlich schwer – natürlich auch, weil jeder jemanden hat, der gerade sein Leben riskiert, um andere zu schützen.

Also macht man einfach dicht?

Viele schauen keine Nachrichten mehr, oder nur jene, die diese Dissonanz nicht stören. Der Terror von Siedlern, Bilder hungernder Kinder in Gaza, das schauen sie sich nicht an oder akzeptieren es als unabänderlich. Manche sagen, ich mache mir genug Sorgen um meinen Mann, der in Gaza kämpft, ich kann nicht noch das große Ganze sehen. Mit dieser Überforderung spielen auch Politiker. Dass die Menschen irgendwann emotional abschalten, nur noch auf ihren eigenen Mikrokosmos gucken: Geht es mir gut, dann nehme ich eine Mauer in Kauf, die mich von den Arabern trennt. Und die Mauer kann im Kopf sein, oder eine richtige Grenzmauer.

Die Menschen in Ihrem Buch entgegnen dann: Wir haben so viel durchgemacht, wir haben den Palästinensern so viel angeboten, und die Antwort war immer nur Terror. Sie haben aufgegeben.

Absolut. Ich kann als neu Eingewanderte viele Traumata nicht nachempfinden, die meine Schwiegermutter zum Beispiel hat. Ich hatte nie Angst, dass meine Eltern nicht mehr heil nach Hause kommen. Ich musste nie mit drei Kindern allein zu Hause die Ritzen an den Fenstern mit Klebstoff oder Kaugummi zukleben, weil ich Angst vor einem Gasangriff hatte, wie im Zweiten Golfkrieg. Das heißt, ich habe einen anderen Blick, der es mir erlaubt, an Punkten kritisch zu sein, die für andere Israelis emotional gar nicht möglich sind.

Sie schreiben über die Menschen in Ihrem direkten Umfeld. Wie sind die damit umgegangen, dass sie immer damit rechnen mussten, alles, was sie sagen, könnte im Buch landen?

Teilweise haben wir Situationen in der Familie so verarbeitet. Als mein Schwager mich in der Familien-Whatsapp-Gruppe eine Verräterin genannt hat, hat seine Frau mich angerufen und sich für ihn entschuldigt. Sie sagte, der 7. Oktober habe ihn verändert. Sie sagte: Versuch, das irgendwie für dich zu verarbeiten, nimm es in dein Buch auf, schreib einen Artikel drüber, mach etwas daraus. Und bei dem Kapitel über meine Schwiegermutter saß ich am Computer und sagte ihr, ich schreibe das jetzt mit.

Heute ist eine der wenigen lauten Stimmen für eine friedliche Zukunft mit den Palästinensern die der linken Organisation Standing Together.

Der 7. Oktober hat viel verändert. In Ihrem Umfeld gibt es viele, die liberale Positionen aufgegeben haben. Hat Netanjahu recht, wenn er sagt, die Linken waren einfach naiv?

Der 7. Oktober war ein extremer Einschnitt für die jüdische Seele, nicht nur in Israel. Das Gefühl, angegriffen zu sein, sich verteidigen zu müssen, das mag gar nicht mehr stimmen, aber solange wir Geiseln in Gaza haben, glaube ich nicht, dass wir das Gefühl überwinden werden. Schon am Morgen des 7. Oktober haben Freunde und Familienmitglieder entmenschlichende Sachen über Palästinenser gesagt. Ich habe mich oft gefragt: Wie viel davon war vorher schon da und wurde nur nicht abgefragt, weil die Situation sich nie so existenziell anfühlte? Heute ist eine der wenigen lauten Stimmen für eine friedliche Zukunft mit den Palästinensern die der linken Organisation Standing Together. Interessanterweise gibt es aber Geiselfamilien, ehemalige Geiseln oder Angehörige von Menschen, die in den Kibbuzim am 7. Oktober getötet wurden, die sich für Frieden engagieren. Ich weiß also nicht, ob die Verhärtung von der Naivität der Linken herrührt. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, wie empfänglich man für radikale Botschaften ist.

Wenn man sich im Überlebenskampf wähnt oder tatsächlich befindet, scheint alles erlaubt.

Genau, das ist auch ein Narrativ, was seit Jahrzehnten von Netanjahu gepflegt wird: Die Welt ist gegen uns, wir haben nur uns. Alles andere ist Antisemitismus. Und er hat ja auch in manchen Punkten recht. Wir wurden nach dem 7. Oktober aus allen Himmelsrichtungen von fünf Feinden angegriffen. Aber wir müssen auch sehen, dass wir die meisten dieser Angriffe abgewehrt und sogar noch einen Krieg gegen das islamische Regime im Iran begonnen haben. Man kann darüber streiten, ob das erfolgreich war, aber zumindest hatten wir im Iran die Lufthoheit. Mir fällt es schwer, diesem Verteidigungs-Narrativ noch Glauben zu schenken. Wir sind nicht mehr an diesem Punkt, vor allem nicht in Gaza. Ich glaube, langsam kommt das auch bei denen an, die bisher dieser Regierung vorbehaltlos den Rücken stärkten.

Das klingt ja fast ein bisschen hoffnungsvoll.

Ich habe keine große Hoffnung. Aber je mehr Menschen verstehen, dass unsere Regierung nicht das Beste für dieses Volk im Sinn hat – das eben nicht nur aus Wählern des Likud, der Partei Netanjahus, besteht oder aus radikalen Siedlern –, desto schneller ist es vielleicht vorbei. Aber ich weiß auch nicht, ob es besser wird, wenn Netanjahu weg ist.

Die Idee für das Buch war die Sorge um dieses Land als Zukunft meines Sohnes.

Zurzeit gehen Hunderttausende für ein Ende des Krieges auf die Straße, selbst rechte Wähler wollen ein Ende des Krieges und die Wahlen im Oktober 2026 könnte die Opposition gewinnen. Ein gutes Zeichen?

Aber wie nachhaltig ist so etwas? Wir sehen jetzt schon, dass Teile der Armee und der Polizei unterwandert sind von radikalen religiösen Zionisten. Von jenen, die Fakten schaffen. Im Westjordanland passiert das schon jeden Tag. Und die Armee drückt die Augen zu, Richter schicken Mörder von Palästinensern in Hausarrest. Soldaten schießen in Gaza auf ein Krankenhaus, ohne das mit Vorgesetzten abgesprochen zu haben. Meine größte Angst ist, dass das Radikale hier gewinnt und Netanjahu überdauert. Vielleicht kommt nächstes Jahr kein Ben-Gvir an die Macht, aber wie sieht das bei der übernächsten Wahl aus?

Was glauben Sie, wie Israel sich entwickeln wird?

Es fällt mir schwer, das zu beantworten, weil ich in Israel gelernt habe, dass man hier alles Schritt für Schritt nehmen muss. Ich denke, die nächste Wahl wird viel entscheiden. Ich selbst habe mir mit meinem Freund vorgenommen, wir wählen noch mal, dann schauen wir: Verändert die nächste Regierung das Land zu einem demokratischeren? Bleiben wir stehen? Oder radikalisiert sich die Gesellschaft weiter?

Ihr kleiner Sohn Oz spielt eine große Rolle im Buch. Warum?

Die Idee für das Buch war die Sorge um dieses Land als Zukunft meines Sohnes. Als Mutter prägen meine Entscheidungen den Menschen, der er wird. Er versteht Arabisch, weil er fast zwei Jahre von einer arabischen Tagesmutter betreut wurde. Jetzt wohnen wir in einer überwiegend ultraorthodoxen Gegend mit nur einem säkularen Kindergarten. Es war mir wichtig, dass er da reinkommt, damit er die Vielfalt der israelischen Gesellschaft erlebt. Aber werde ich das immer aufrechterhalten können? Was wird er für ein Mensch, wenn er hier aufwächst?

Überlegen Sie, wieder zu gehen?

Ich habe eine familiäre Verbindung zu Israel und eine emotionale über meine Identität. Aber ich weiß, ich könnte diese Identität auch anderswo leben. Viele Juden können das nicht, sie haben keinen anderen Ort, wo sie so leben könnten, wie sie es hier tun. Die Frage ist, was sind sie bereit, dafür zu opfern? Ich bin nicht bereit, meinen Sohn für einen Krieg wie diesen zu opfern. Und ich glaube, das wird am Ende die Zukunft Israels entscheiden: Wie viele Menschen sind noch bereit, alles zu geben für dieses Land?

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Sarah Levy wurde 1985 geboren und wuchs in Deutschland in einer teils jüdischen, teils nicht-jüdischen Familie auf. Sie besuchte die Henri-Nannen-Schule in Hamburg und arbeitet als freie Journalistin. 2019 zog sie nach Israel, wo sie mit ihrem Partner und Sohn Oz in einem Vorort von Tel Aviv lebt. Ihr Buch Kein anderes Land ist bei Rowohlt erschienen (336 S., 24 €)

de Krieg. Ihre Erlebnisse der vergangenen zwei Jahre hat Sarah Levy wieder in einem Buch verarbeitet: Kein anderes Land (Rowohlt 2025, 336 S., 24 €).der Freitag: Frau Levy, es gibt einen Satz in Ihrem Buch, der sich mir eingeprägt hat: „Dieselbe Armee, die mich, mein Kind, meinen Partner schützt, ist die Armee, die innerhalb kürzester Zeit Zehntausende Palästinenser getötet hat.“ Wie hält man diese Gleichzeitigkeit aus?Sarah Levy: Das ist tatsächlich etwas, was ich in Israel gelernt habe. Als ich 2019 Aliyah machte, verschwendete ich ehrlicherweise wenig Gedanken an die Besatzung. Ich hatte zuvor zwei politische Reisen durch das Westjordanland gemacht, aber was die Unterdrückung der Palästinenser im Alltag bedeutet, verstand ich erst, als mein Hebräisch besser wurde und ich die israelischen Nachrichten verstand – auch die, die nicht im Fernsehen gezeigt werden. Und ich begann zu verstehen, was für eine extreme Gehirnakrobatik es ist, als Israeli damit zu leben.In Ihrem Buch suchen Sie genau darüber oft das Gespräch mit Ihren Freunden und Verwandten.Es gibt ein Gespräch mit meiner israelischen Schwiegermutter, wo sie sagt, es geschieht ihnen recht, was in Gaza passiert. Ich finde das menschenverachtend, und dafür kann ich sie verurteilen. Aber ich kann sie nicht dafür verurteilen, die Hoffnung verloren zu haben. Das ist der Konflikt hier: Man hat die Erfahrungen der Menschen der vergangenen Jahrzehnte und gleichzeitig das, was die Armee anderen Menschen antut. Es ist eine Gleichzeitigkeit, die man oft nur mit blinden Flecken aushalten kann.Was bedeutet das für das Land?Die israelische Gesellschaft hat sich nie entschieden, sind wir ein demokratischer Staat oder ein jüdischer? Diese Widersprüche finde ich in den Identitäten jüdischer Israelis, die mich umgeben. Viele haben das Gefühl, sie müssten sich entscheiden, wie jüdisch bin ich, wie sehr bin ich Israeli? Wie wichtig ist es mir, mit meinen arabischen Nachbarn zusammenzuleben? Diese zwei Identitäten widersprechen sich oft. Es ist kompliziert, Israeli zu sein. Und mit einer Regierung wie der Netanjahus, die nicht für Dialog ist, ist es noch viel schwieriger.Ich kann als neu Eingewanderte viele Traumata nicht nachempfinden, die meine Schwiegermutter zum Beispiel hat.Sie sagen, Sie haben in Israel gelernt, diese Komplexität auszuhalten. Aber vielen Israelis scheint das schwerzufallen. Wie erklären Sie sich das?Die meisten meiner Freunde waren in der Armee, ich nicht. Vielleicht war der erste Kontakt, den sie mit Arabern hatten, an einem Checkpoint. Als 19-jähriger Mensch. Dieses Machtgefälle prägt. Und das führt womöglich dazu, Dinge zu akzeptieren, die nicht in Ordnung sind. Ich will das nicht entschuldigen, aber so ist die Gesellschaft hier gebaut. Manche Freunde sagen, die Armee sei die prägendste Zeit ihres Lebens gewesen. Kritik an der Armee ist unheimlich schwer – natürlich auch, weil jeder jemanden hat, der gerade sein Leben riskiert, um andere zu schützen.Also macht man einfach dicht?Viele schauen keine Nachrichten mehr, oder nur jene, die diese Dissonanz nicht stören. Der Terror von Siedlern, Bilder hungernder Kinder in Gaza, das schauen sie sich nicht an oder akzeptieren es als unabänderlich. Manche sagen, ich mache mir genug Sorgen um meinen Mann, der in Gaza kämpft, ich kann nicht noch das große Ganze sehen. Mit dieser Überforderung spielen auch Politiker. Dass die Menschen irgendwann emotional abschalten, nur noch auf ihren eigenen Mikrokosmos gucken: Geht es mir gut, dann nehme ich eine Mauer in Kauf, die mich von den Arabern trennt. Und die Mauer kann im Kopf sein, oder eine richtige Grenzmauer.Die Menschen in Ihrem Buch entgegnen dann: Wir haben so viel durchgemacht, wir haben den Palästinensern so viel angeboten, und die Antwort war immer nur Terror. Sie haben aufgegeben.Absolut. Ich kann als neu Eingewanderte viele Traumata nicht nachempfinden, die meine Schwiegermutter zum Beispiel hat. Ich hatte nie Angst, dass meine Eltern nicht mehr heil nach Hause kommen. Ich musste nie mit drei Kindern allein zu Hause die Ritzen an den Fenstern mit Klebstoff oder Kaugummi zukleben, weil ich Angst vor einem Gasangriff hatte, wie im Zweiten Golfkrieg. Das heißt, ich habe einen anderen Blick, der es mir erlaubt, an Punkten kritisch zu sein, die für andere Israelis emotional gar nicht möglich sind.Sie schreiben über die Menschen in Ihrem direkten Umfeld. Wie sind die damit umgegangen, dass sie immer damit rechnen mussten, alles, was sie sagen, könnte im Buch landen?Teilweise haben wir Situationen in der Familie so verarbeitet. Als mein Schwager mich in der Familien-Whatsapp-Gruppe eine Verräterin genannt hat, hat seine Frau mich angerufen und sich für ihn entschuldigt. Sie sagte, der 7. Oktober habe ihn verändert. Sie sagte: Versuch, das irgendwie für dich zu verarbeiten, nimm es in dein Buch auf, schreib einen Artikel drüber, mach etwas daraus. Und bei dem Kapitel über meine Schwiegermutter saß ich am Computer und sagte ihr, ich schreibe das jetzt mit.Heute ist eine der wenigen lauten Stimmen für eine friedliche Zukunft mit den Palästinensern die der linken Organisation Standing Together.Der 7. Oktober hat viel verändert. In Ihrem Umfeld gibt es viele, die liberale Positionen aufgegeben haben. Hat Netanjahu recht, wenn er sagt, die Linken waren einfach naiv?Der 7. Oktober war ein extremer Einschnitt für die jüdische Seele, nicht nur in Israel. Das Gefühl, angegriffen zu sein, sich verteidigen zu müssen, das mag gar nicht mehr stimmen, aber solange wir Geiseln in Gaza haben, glaube ich nicht, dass wir das Gefühl überwinden werden. Schon am Morgen des 7. Oktober haben Freunde und Familienmitglieder entmenschlichende Sachen über Palästinenser gesagt. Ich habe mich oft gefragt: Wie viel davon war vorher schon da und wurde nur nicht abgefragt, weil die Situation sich nie so existenziell anfühlte? Heute ist eine der wenigen lauten Stimmen für eine friedliche Zukunft mit den Palästinensern die der linken Organisation Standing Together. Interessanterweise gibt es aber Geiselfamilien, ehemalige Geiseln oder Angehörige von Menschen, die in den Kibbuzim am 7. Oktober getötet wurden, die sich für Frieden engagieren. Ich weiß also nicht, ob die Verhärtung von der Naivität der Linken herrührt. Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, wie empfänglich man für radikale Botschaften ist.Wenn man sich im Überlebenskampf wähnt oder tatsächlich befindet, scheint alles erlaubt.Genau, das ist auch ein Narrativ, was seit Jahrzehnten von Netanjahu gepflegt wird: Die Welt ist gegen uns, wir haben nur uns. Alles andere ist Antisemitismus. Und er hat ja auch in manchen Punkten recht. Wir wurden nach dem 7. Oktober aus allen Himmelsrichtungen von fünf Feinden angegriffen. Aber wir müssen auch sehen, dass wir die meisten dieser Angriffe abgewehrt und sogar noch einen Krieg gegen das islamische Regime im Iran begonnen haben. Man kann darüber streiten, ob das erfolgreich war, aber zumindest hatten wir im Iran die Lufthoheit. Mir fällt es schwer, diesem Verteidigungs-Narrativ noch Glauben zu schenken. Wir sind nicht mehr an diesem Punkt, vor allem nicht in Gaza. Ich glaube, langsam kommt das auch bei denen an, die bisher dieser Regierung vorbehaltlos den Rücken stärkten.Das klingt ja fast ein bisschen hoffnungsvoll.Ich habe keine große Hoffnung. Aber je mehr Menschen verstehen, dass unsere Regierung nicht das Beste für dieses Volk im Sinn hat – das eben nicht nur aus Wählern des Likud, der Partei Netanjahus, besteht oder aus radikalen Siedlern –, desto schneller ist es vielleicht vorbei. Aber ich weiß auch nicht, ob es besser wird, wenn Netanjahu weg ist.Die Idee für das Buch war die Sorge um dieses Land als Zukunft meines Sohnes.Zurzeit gehen Hunderttausende für ein Ende des Krieges auf die Straße, selbst rechte Wähler wollen ein Ende des Krieges und die Wahlen im Oktober 2026 könnte die Opposition gewinnen. Ein gutes Zeichen?Aber wie nachhaltig ist so etwas? Wir sehen jetzt schon, dass Teile der Armee und der Polizei unterwandert sind von radikalen religiösen Zionisten. Von jenen, die Fakten schaffen. Im Westjordanland passiert das schon jeden Tag. Und die Armee drückt die Augen zu, Richter schicken Mörder von Palästinensern in Hausarrest. Soldaten schießen in Gaza auf ein Krankenhaus, ohne das mit Vorgesetzten abgesprochen zu haben. Meine größte Angst ist, dass das Radikale hier gewinnt und Netanjahu überdauert. Vielleicht kommt nächstes Jahr kein Ben-Gvir an die Macht, aber wie sieht das bei der übernächsten Wahl aus?Was glauben Sie, wie Israel sich entwickeln wird?Es fällt mir schwer, das zu beantworten, weil ich in Israel gelernt habe, dass man hier alles Schritt für Schritt nehmen muss. Ich denke, die nächste Wahl wird viel entscheiden. Ich selbst habe mir mit meinem Freund vorgenommen, wir wählen noch mal, dann schauen wir: Verändert die nächste Regierung das Land zu einem demokratischeren? Bleiben wir stehen? Oder radikalisiert sich die Gesellschaft weiter?Ihr kleiner Sohn Oz spielt eine große Rolle im Buch. Warum?Die Idee für das Buch war die Sorge um dieses Land als Zukunft meines Sohnes. Als Mutter prägen meine Entscheidungen den Menschen, der er wird. Er versteht Arabisch, weil er fast zwei Jahre von einer arabischen Tagesmutter betreut wurde. Jetzt wohnen wir in einer überwiegend ultraorthodoxen Gegend mit nur einem säkularen Kindergarten. Es war mir wichtig, dass er da reinkommt, damit er die Vielfalt der israelischen Gesellschaft erlebt. Aber werde ich das immer aufrechterhalten können? Was wird er für ein Mensch, wenn er hier aufwächst?Überlegen Sie, wieder zu gehen?Ich habe eine familiäre Verbindung zu Israel und eine emotionale über meine Identität. Aber ich weiß, ich könnte diese Identität auch anderswo leben. Viele Juden können das nicht, sie haben keinen anderen Ort, wo sie so leben könnten, wie sie es hier tun. Die Frage ist, was sind sie bereit, dafür zu opfern? Ich bin nicht bereit, meinen Sohn für einen Krieg wie diesen zu opfern. Und ich glaube, das wird am Ende die Zukunft Israels entscheiden: Wie viele Menschen sind noch bereit, alles zu geben für dieses Land?