Russlands Krieg gegen die Ukraine verschlingt Menschen und Ressourcen, derweil feiert ein Filmgenre Erfolg: das Märchen. Denn die Realität finden die Russen zu furchtbar. Meint Wladimir Kaminer.
Mit dem Überfall auf die Ukraine ist in Russland eine neue Kulturzeit angebrochen: Die künstlerische Freiheit ohne Zensur und ohne politische Einflussnahme hat sich verabschiedet, die Kunst muss wieder von mehreren Instanzen geprüft und genehmigt werden. Ich schreibe „wieder“, weil dieser Zustand für die meisten Kulturschaffenden kein Novum ist.
Die Zensur in der Sowjetunion war hart, und jeder Künstler, der sich nicht in den Dienst des Regimes stellte, musste damit rechnen, dass seine Gemälde nicht ausgestellt, seine Bücher nicht gedruckt und seine Kompositionen niemals in der Öffentlichkeit gespielt werden. Diese Tatsache hielt jedoch niemanden davon ab, Kunst zu machen, wenn nicht für großes Publikum, dann eben „für die Schublade“, wie es damals hieß.
Unzählige Romane wurden für die Schublade geschrieben, Bilder gemalt, und Musik wurde komponiert, oft ohne jegliche Hoffnung, ohne den Glauben an eine bessere Zukunft. Nach dem Untergang der Sowjetunion öffnete man die Schublade, die Kunst darin hatte sich gut gehalten, sie kam heraus und eroberte die Welt. Die Malerei des russischen Untergrunds erhielt im Westen großen Zuspruch, die Bilder wurden auf allen Kontinenten ausgestellt, die Bücher übersetzt.
Auf diesem Fest der Künste hatten die Filmemacher schon immer den Schwarzen Peter. Die Filmproduktionen waren für die Schublade zu groß, zu aufwendig, sie passten da nicht rein. Außerdem stand die Filmbranche schon immer unter besonderer Beobachtung des Regimes. Sie wurde sehr heftig kontrolliert.
Bereits der Anführer des Weltproletariats, Lenin, sagte vor über hundert Jahren: „Von allen Künsten sind für uns die wichtigsten: der Zirkus und der Film.“ Warum ausgerechnet sie? Wegen der Strahlkraft, es waren die Künste der Massen, am besten für Propaganda und Agitation geeignet. Seitdem sind in der Wolga viele Fische rückwärts geschwommen, der Zirkus hat seine große Strahlkraft und Bedeutung eingebüßt, doch das Kino bleibt nach wie vor im Visier der staatlichen Behörden.
Wenn Krieg herrscht, sind in erster Linie patriotische Filme gefragt, die dem Regime helfen können, Feindbilder zu schaffen und die Bevölkerung zu mobilisieren. So auch heute. Solche Versuche wurden unternommen, doch die neuen Kriegsfilme und Heldensagen machten überhaupt keine Kasse. Die Bürger wehren sich. Nach siebzig Jahren von dick aufgetragenem sowjetischen Hardcore-Patriotismus wirkt der neue putinistische Patriotismus zu lasch, anstrengend und wie aus zweiter Hand.