Einst, in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, war der „Toledo Truth Teller“ eine feste Burg der Demokratie im US-Bundesstaat Ohio und im gesamten Mittleren Westen. Seine rasenden Reporter schauten den Mächtigen auf die Finger, gruben Skandale aus, ließen nicht locker und informierten die Öffentlichkeit. Für die zeitunglesende Bevölkerung von Toledo, und das waren fast alle, war der „TTT“ das Synonym für die richtige Ausübung der „vierten Gewalt“.
Von solch vergangenen Zeiten kündet der steingewordene Stolz des Zeitungsgründers, das Trutzgebäude des „Truth Teller Tower“, in dem einst 100 Journalisten wirkten, weitere 300 waren draußen im Einsatz. Geld war da. Qualität kostet, hieß es. Der „TTT“ hatte Korrespondenten in Washington, New York und im Ausland, weil der Verleger es für wichtig hielt, über den Tellerrand zu blicken.
Die Firma „Softees“ hat das Ruder übernommen
Schneller Schnitt ins Hier und Jetzt: Statt über den Tellerrand starrt die Zeitung heute in die Kloschüssel. Seit die Zellstofffirma „Softees“ das Ruder übernommen hat, ist ein ganzes Stockwerk von der Strategieabteilung belegt, und im legendären 9. Stock sitzen die Verkaufsabteilung und die Buchhaltung. Die Produktpalette der Firma, in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit: Klopapier, Papier-Klobrillenabdeckungen und die Onlineausgabe des „Toledo Truth Teller“, mit zwei Redakteurinnen und null Autoren beziehungsweise einer lebenden Reportermumie, im Großraumbüro abgestellt.
Eigentlich gibt es nur eine einzige Fachfrau, die frühere Armeezeitungsangestellte Mare Prittie (Chelsea Frei). Ihre Aufgabe in Zeiten des Gratisjournalismus: Agenturmeldungen kopieren, klicken, verschieben, fallenlassen, vergessen. Chefredakteurin spielt vorerst die kapriziös-manipulative Esmeralda Grand (Sabrina Impacciatore), die sich für „irgendwas mit Medien“ als ehemalige Dating-Realityshow-Teilnehmerin und Protegée des „Softees“-Numbercrunchers Ken Davies (Tim Key) qualifiziert hat.
Die einstige Reporterlegende schläft
Gelegentlich schreibt Esmeralda Artikel, zum Beispiel über ihre Hautpflegeroutine vor dem Schlafengehen. Barry (Duane R. Sheperd Sr.), die einstige Reporterlegende, schläft an seinem Platz und ist nicht mehr unter die Aktivposten zu zählen. Bis Ned Sampson (Domhnall Gleeson) als neuer Chefredakteur mit der Idee hereinstürmt, die Truppen zu sammeln, auf tausendundeinerlei bislang unbemerkte Schweinerei loszulassen und die gedruckte Ausgabe wiederzubeleben.
Verrückt! Findet Ken, der keinen Cent für Personal geben will; findet Esmeralda, die um ihren Platz fürchtet; findet Mare, die das Ganze für Harakiri hält. Barry verschläft die Neuigkeiten. Da zusätzliche Manpower nicht zu haben ist, animiert Ned, der als ehemaliger Sales-Motivationskönig für Klopapier eine tolle Quote vorzuweisen hat, „Softees“-Buchhalter wie Oscar (Oscar Nunez) und Nicole (Ramona Young) nebst Klopapier-Verkäufern wie Detrick (Melvin Gregg), sich Notizblöcke zu schnappen. Die Storys liegen auf der Straße, und so schwierig können Recherche und Aufschreiben ja nicht sein, oder? Wenn schon ein Schüler wie der aalglatte „SoWesley“ mit seinem News-Blog 300.000 Abonnenten hat.
Neuauflage ohne Nachrichten
Erst einmal ist Neds Idee ein Rezept für Desaster. Bei deren himmelschreiend absurder Umsetzung leider eine Dokumentarfilmcrew hautnah dabei ist, die in jeden Bürowinkel ihre Nase, respektive ihre Kamera steckt, die jede peinliche, irre, unappetitliche, überdramatische Konversation aufnimmt, jedes chaotische Meeting, jeden Versuch Neds, die Truppe unter dem permanenten Störfeuer von Esmeralda zu schulen.
Ned, der eine solide Journalistenausbildung genossen hat, nun dem Mammon entsagt und das Ethos der Unkorrumpierbarkeit hochhält, mit einer alten Schreibmaschine anrückt und in der ersten neuen Ausgabe verkünden kann „No News is Good News“, weil alle anderen Artikelaufträge den Bach runtergegangen sind. Bei all dem bleibt Marv Putnam (Allan Havey), der betagte Verleger, abwartend. Kostet ja nichts, das Experiment. Ned kann immer noch zur Toilettenfraktion wechseln. Nur ist Mare bald Neds Partnerin in Truth-Telling-Crime, besonders, als „Softees“ den angeblich selbstauflösenden „Arschwisch-Handschuh“ aus Papier herausbringt und damit die gesamte Kanalisation von Toledo verstopft.
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Wem diese „Mockumentary“, sprich fiktive Dokuserie, irgendwie bekannt vorkommt, hat recht. „The Paper“ ist der witzige, extrem wahre, redaktionslebensnahe und wärmstens zu empfehlende Ableger der britischen Erfolgsserie „The Office“ („Stromberg“ bei uns). Entstanden ist sie unter Beteiligung des Masterminds hinter dem gelungenen US-Ableger, Greg Daniels, und auch ihr Erfinder Ricky Gervais ist an Bord. Zu sehen ist hier feinste Drehbuchschreibe aus der Abteilung funktionierende Selbstironie. Bei allem Wortwitz, mit diesem Supercast und all den rasanten Verwicklungen (das Team testet in Clickbait-Anzeigen beworbene Billigprodukte an sich selbst und muss dafür bitter büßen) ist „The Paper“ klassische „Workplace-Comedy“ – und mehr.
Der Versuch, dem „Toledo Truth Teller“ als Papierzeitung neues Leben einzuhauchen, hat etwas Rührendes und Optimistisches gegen alle Wahrscheinlichkeit. Wahrheitssuche als Beruf, das wird überaus ernst genommen. Peinlich nur, wenn, wie bei Ned, das Ethik-Motto von Geraldo Rivera stammt, dem in Ungnade gefallenen einstigen Star-Kriegsreporter des US-Fernsehens, der nicht nur mit Lügen über seine angebliche Kampfhandlungsnähe in Afghanistan 2001 seinen Ruf gründlich verspielte. Nach zehn Folgen, die mit einem Riesen-Cliffhanger enden, ist zweierlei klar: Die schon beschlossene zweite Staffel von „The Paper“ muss sein. Und: Die Papierzeitung ist das nächste heiße Ding!
Die ersten vier Folgen von The Paper laufen seit Freitag bei Sky und Wow, wöchentlich sind je zwei neue verfügbar. Die lineare Ausstrahlung erfolgt später im Jahr bei Sky One.