Es ist früher Nachmittag, als Nigel Farage die Bühne im National Exhibition Centre (NEC) in Birmingham betritt, drei Stunden eher als geplant. Dies liegt daran, dass Angela Rayner, die stellvertretende Premierministerin und eine der bekanntesten Figuren der regierenden Labour-Partei, gerade wegen einer Affäre um nicht gezahlte Steuern zurückgetreten ist. Die Nachricht erschüttert den politischen Betrieb in Großbritannien – und liefert dem Chef der rechtspopulistischen Partei Reform UK den perfekten Moment.
In der riesigen Halle empfangen seine Anhänger ihn mit einem Spektakel, das mehr an ein Popkonzert erinnert als an eine Parteiversammlung. Applaus brandet auf, die Musik wummert aus den Lautsprechern, Feuerwerkskörper zischen in die Höhe. Nigel Farage, 61 Jahre alt, wie immer korrekt gekleidet mit Anzug und Krawatte, wirkt gelöst, beinahe triumphierend, als er die Regierung frontal attackiert. Großbritannien stecke in einer tiefen Krise, sagt er, und werde von Politikern geführt, die das Land nicht im Griff hätten. Und mitten in diesem Chaos, so Farage, erhebe sich nun eine neue Kraft: Reform UK. Er verspricht, das Land wieder sicherer zu machen, die Polizeikontrollen auf den Straßen auszuweiten, ausländische Straftäter konsequent abzuschieben – und vor allem auf dem Ärmelkanal die Boote mit Geflüchteten zurückzuschicken. Reform UK inszeniert sich als künftige Regierungspartei, und das NEC bietet dafür die Kulisse.
Rund 30 Prozent würden aktuell für Nigel Farage und Reform UK stimmen
Das alles mag man auf den ersten Blick als übliches Getöse abtun. Als politisches Spektakel von der rechten Flanke, das man auf einem Parteitag eben liefern muss. Aber da ist mehr. Da ist die gewaltige Bühne und eine eigene Halle für Sponsoren und Medienvertreter, ein Aufwand, der dem etablierter Parteien kaum nachsteht. Zur Jahreskonferenz, die noch bis zu diesem Samstag geht, werden Tausende Besucher erwartet, darunter Unternehmen wie der Flughafenbetreiber Heathrow oder die Internet-Plattform TikTok. Es gibt zahlreiche Nebenveranstaltungen, darunter ein Event der britischen Denkfabrik More in Common, das Antworten auf eine Frage sucht, die sich in diesen Tagen viele Menschen stellen: Kann Reform UK mehr sein als nur eine Protestpartei?
In der Wählergunst jedenfalls liegt die rechtspopulistische Partei schon jetzt vorn: Rund 30 Prozent würden aktuell für sie stimmen, wenn morgen gewählt würde. Die regierende sozialdemokratische Labour-Partei von Keir Starmer, die bei der Abstimmung im vergangenen Jahr noch rund ein Drittel der Stimmen gewann, ist auf nur noch 20 Prozent abgestürzt. Politische Beobachter sprechen von Reform UK als möglichem „government in waiting“, einer Kraft, die nur noch auf den Machtwechsel zu warten scheint. Nigel Farage, einst Vorkämpfer der Brexit-Bewegung und berühmtester EU-Hasser auf der Insel, steht längst nicht mehr am Rand. Seine Partei ist, was die Aufmerksamkeit betrifft, ins Zentrum gerückt.
Wie konnte es so weit kommen in einem Land, das mehr oder weniger als letzte Bastion gegen den Rechtspopulismus galt? Und könnte Farage womöglich der nächste Premierminister werden? Für Freddie Goff aus Milton Keynes, einem jungen Reform-Mitglied in Anzug und Union-Jack-Krawatte, steht die Antwort schon fest: „Er wird der nächste Premierminister“, ist er überzeugt. Die Lage in Großbritannien sei so ernst, dass er und viele andere bereit seien, ihn von ganzem Herzen zu unterstützen. Der 18-Jährige erzählt, er unterstütze Reform UK, weil er von den Konservativen enttäuscht sei und Reform UK als einzige Alternative sehe. Offenbar stimmen immer mehr Briten dieser Haltung zu.
Es ist ein bemerkenswerter Wandel. Noch vor anderthalb Jahren galt Reform UK als Protestpartei, der kaum jemand zutraute, über die 20-Prozent-Marke zu kommen. Das lag auch an Skandalen – etwa als Wahlkämpfer mit rassistischen Bemerkungen über den früheren konservativen Premier Rishi Sunak aufflogen. Lange war für viele Briten klar: Solche Ausfälle machen die Partei regierungsunfähig. Das hat sich geändert. Luke Tryl von More in Common bestätigt, dass Reform UK heute eine breitere und vielfältigere Wählerstruktur habe als früher. „Sie spiegelt viel eher den Durchschnittsbriten wider“, sagt er. Und: Migration ist das Thema, das die Wähler am stärksten mobilisiert und zum Erfolg der Partei beiträgt – befeuert von den täglichen Meldungen über Boote, die Geflüchtete über den Ärmelkanal bringen.
Vergangene Woche forderte Farage den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und massenhafte Abschiebungen
Dabei sind die Einwanderungszahlen im europäischen Vergleich eher niedrig. In den Schlagzeilen erscheinen die Menschen dennoch oft als gesichtslose Masse, über die erbittert gestritten wird. Mal löst die Unterbringung von Asylsuchenden in Hotels Ärger aus – Häuser, in denen Einheimische Hochzeiten gefeiert haben und die als Wahrzeichen der Stadt gelten. Mal richtet sich der Protest gegen geplante neue Heime für Geflüchtete. Farage greift die aufgeheizte Stimmung auf, verstärkt sie mit seiner Rhetorik und verwandelt den Unmut in politische Schlagzeilen. Mit einfachen Antworten auf komplexe Probleme verleiht er Reform UK Auftrieb, spricht offen von einer „Invasion“.
Icon vergrößern
Für jede zynische Aktion zu haben: Nigel Farage, als er kürzlich den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und massenhafte Abschiebungen forderte.
Foto: Joanna Chan, AP/dpa
Schließen
Icon Schließen
Icon vergrößern
Icon verkleinern
Icon Pfeil bewegen
Für jede zynische Aktion zu haben: Nigel Farage, als er kürzlich den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und massenhafte Abschiebungen forderte.
Foto: Joanna Chan, AP/dpa
Vergangene Woche forderte Farage mit einer „Operation Wiederherstellung der Gerechtigkeit“ den Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und massenhafte Abschiebungen. Für Kritiker ist dies ein Frontalangriff auf die Menschenrechte. Die Tageszeitung Financial Times sprach von einem Störmanöver, der Guardian von „Trumpismus im Union Jack“. Labour hat Farage hingegen dieser Tage nur wenig entgegenzusetzen, die Partei ist vielmehr mit eigenen Problemen beschäftigt. Statt ihm klar zu widersprechen, geht Premier Starmer sogar ein Stück weit auf die Forderungen ein. Ein Beispiel ist die Ankündigung, Hotels, in denen derzeit noch Asylsuchende untergebracht sind, rasch schließen zu wollen. „Die Hoffnung ist, mit harten Worten und dem Anschein entschlossenen Handelns die Menschen von der populistischen Rechten fernzuhalten“, sagt Tim Bale, Politologe an der Queen Mary University of London, unserer Redaktion. Doch indem Labour versuche, Reform UK rechts zu überholen, tappe sie in dieselbe Falle wie viele andere Parteien in Europa, sagt der Experte, und treibe ihre progressiven Anhänger geradewegs in die Arme der Konkurrenz.
Rückblickend hat sich der Aufstieg von Reform UK bereits im Sommer des vergangenen Jahres angekündigt, als Farage in Clacton, einer Küstenstadt in Essex, nach zahlreichen Anläufen ins britische Parlament einzog. Migration dominierte die Gespräche an Marktständen und in Cafés schon damals – angestoßen durch Schlagzeilen über irregulär eingereiste Flüchtlinge, und die Vorstellung, sie erhielten leichter eine Unterkunft als Einheimische. „In kleineren, eher provinziellen Städten herrscht das Gefühl, wirtschaftlich zurückgelassen worden zu sein, und dass die aufeinanderfolgenden Regierungen die Bedenken hinsichtlich der Einwanderung nicht ernst genommen haben“, sagt Bale.
Im Sog dieser Stimmung zog Reform UK im Juli 2024 schließlich mit fünf Abgeordneten ins Londoner Unterhaus ein. Was zunächst nach einem Achtungserfolg aussah, erwies sich schnell als Auftakt zu einer Serie weiterer Siege. Bei den Kommunalwahlen im Mai 2025 eroberte die Bewegung zahlreiche Rathäuser, stellte Bürgermeister und übernahm erstmals ganze Bezirke. Auf der eigenen Internetseite bildet ein Zähler die wachsende Anhängerschaft der Partei ab: Mehr als 238.000 Mitglieder waren es zuletzt. Damit liegt Reform UK längst vor den Konservativen und nicht weit hinter Labour. Diesen Erfolg habe selbst er nicht erwartet, sagt Farage am Freitag in Birmingham.
Während Gleichaltrige in der Pubertät mit Lederjacken und langen Haaren provozierten, erschien Farage im Anzug
Fest steht: Kaum jemand in der britischen Politik hat in den vergangenen Jahrzehnten so polarisiert wie Nigel Farage. Im eigenen Land wird er gerne mit „Marmite“ verglichen, einem Brotaufstrich, den man entweder liebt oder hasst. Doch der Mann kann Inhalte in einer Sprache präsentieren, die viele verstehen, und gibt sich dabei volksnah, wird oft mit einem Pint Bier in der Hand fotografiert. „Natürlich spielt er, wie jeder andere Politiker auch, nur eine Rolle. Aber er beherrscht sie deutlich besser als die meisten anderen“, sagt Bale. Hinzu kommt sein Gespür für Kommunikation. Farage weiß, wie man Schlagzeilen produziert. Er ist ein Publikumsmagnet für Radio und Fernsehen und sein Team steckt viel Energie in soziale Medien. So erreicht er Zielgruppen, die andere Parteien kaum ansprechen. Auf TikTok inszeniert er sich dabei gerne als Provokateur, der im Pub über Politik plaudert oder in kurzen Clips den politischen Gegner verspottet.
Schon als Schüler galt Farage als rebellisch. Während Gleichaltrige in der Pubertät mit Lederjacken und langen Haaren provozierten, erschien er im Anzug. Ein Lehrer erinnert sich, dass er Farage am Tag seines Schulabschlusses sagte: „Nigel, ich bin mir sicher, du wirst es einmal weit bringen, ob zum Ruhm oder Verruf, das kann ich nicht sagen.“ Dieser habe geantwortet: „Egal, Sir. Hauptsache, ich komme weit.“
In diesem Satz steckt bereits die Haltung seiner späteren Karriere. Farage wollte nicht für etwas stehen, sondern gegen etwas sein, gegen Brüssel, gegen das Establishment. Er prägte die britische Politik dabei jahrelang, ohne selbst im Unterhaus zu sitzen – zunächst als Abgeordneter im Europäischen Parlament, dann als Parteichef der UK Independence Party (UKIP) und später der Brexit-Party. Jetzt ist er mit Reform UK zurück und sitzt selbst im Parlament.
Könnte Farage nun auch noch Premierminister werden? „Sicher ist das nicht”, sagt Bale. Viele Wähler liebäugeln zwar mit Reform UK, doch nicht alle trauen der Bewegung zu, das Land tatsächlich regieren zu können, und sehen zudem Farage nicht im Amt eines Premierministers. Hinzu kommt das Wahlsystem, das kleinere Parteien strukturell benachteiligt. Anders als in Deutschland gibt es in Großbritannien kein Verhältniswahlrecht. In jedem Kreis gewinnt der Kandidat mit den meisten Stimmen, alle anderen gehen leer aus. Würden sie schließlich doch unter 30 Prozent bleiben, hätten sie trotz beachtlicher Zustimmung kaum Chancen auf eine nennenswerte Zahl von Sitzen im Parlament. „Keines dieser Probleme ist unüberwindbar“, sagt Bale, „aber sie machen den Weg an die Macht für Farage deutlich steiniger.“
-
Susanne Ebner
Icon Haken im Kreis gesetzt
Icon Plus im Kreis
-
Nigel Farage
Icon Haken im Kreis gesetzt
Icon Plus im Kreis
-
Politik
Icon Haken im Kreis gesetzt
Icon Plus im Kreis