Der kleine Felix ist entführt worden. In Nürtingen. Und in Waiblingen. Wie auch Mia – in Asperg. Oder Paula in Winnenden. In lokalen Chatgruppen von Facebook oder Instagram verbreiten sich wortgleiche Hilfs- und Fahndungsaufrufe von angeblich vermissten Kindern mit der Bitte, diese weiter zu teilen. Die Entführungen sind frei erfunden. Falsche Verbrechen, haltlose Warnmeldungen, vorgetäuschte Straftaten, gefakte Fahndungen: In der Region Stuttgart häufen sich derzeit unterschiedlichste Fälle von falschem Alarm. Was steckt dahinter?
Alarm in Nürtingen im Kreis Esslingen. Über Facebook-Netzwerke wird nach dem kleinen Felix gesucht. Beim Spielen im Garten entführt, alles von einer Überwachungskamera aufgezeichnet, der Täter aber nicht identifiziert. Für Ramona Döttling, Sprecherin des zuständigen Polizeipräsidiums Reutlingen, bekannte Aufrufe, bei den es sich um Falschmeldungen handelt: „Tatsächlich gibt es einen solchen Vermissten- beziehungsweise gar Entführungsfall derzeit in Nürtingen nicht“, so die Sprecherin. Ähnliches muss die Ludwigsburger Polizeisprecherin Yvonne Schächtele über den Fall Mia in Asperg feststellen.
Falscher Verdächtiger gerät sogar ins Polizeisystem
Ein schlechter Scherz? Doch wie soll man Fake von Fakten unterscheiden? Grundsätzlich gilt: Nichts weiterverbreiten, ohne es selbst geprüft zu haben. „Ein Blick auf den Urheber in den Beiträgen lässt oft Rückschlüsse zu, wer für die Nachricht verantwortlich zeichnet“, sagt Polizeisprecherin Döttling. Wer soll das sein – wangbaochen.com? Auch eine kurze Suche im Internet mit dem Namen des angeblich Gesuchten müsse schon stutzig machen: Besagter Felix soll nämlich auch in Alsdorf, Crailsheim, Waiblingen oder Laichingen entführt worden sein.
Selbst eine Amokfahrt in Mannheim im März 2025 wurde für Fakenews missbraucht. Foto: dpa
Doch die Welt der Fakenews und falsche Fährten können selbst die Polizei irritieren. Als besonders krasser Fall von gefälschten Nachrichten gilt die Verbreitung der angeblichen Identität jenes Autofahrers, der Anfang März dieses Jahres mit seinem Fahrzeug in der Mannheimer Innenstadt in eine Gruppe von Passanten gerast war, dabei zwei Menschen tötete und fünf schwer verletzte. Eine „unbekannte Quelle von außen“, so das Landeskriminalamt, hatte in sozialen Netzwerken das Foto eines deutschen Personalausweises und Führerscheins eines Mannes mit eindeutig arabischem Namen verbreitet. Offenkundig sollte über rechte Netzwerke ein islamistischer Hintergrund der Amokfahrt in die Welt gesetzt werden. Tatsächlich gingen die Personalie des 33-Jährigen aber auch in die polizeiinternen Systeme ein, um zu prüfen, ob er etwas mit dem tatsächlichen 40-jährigen Amokfahrer zu tun hatte.
Entführungs-Fakes sind oftmals eine Phishing-Falle
Dass politische Motive auch hinter den angeblich entführten Kindern stecken, gilt als eher unwahrscheinlich. Vielmehr um betrügerisches Phishing, das Abfischen von Profilen von Facebook- oder Instagram-Nutzern. Die Organisation Mimikama, die sich für Aufklärung über Internetmissbrauch einsetzt, warnt seit Längerem vor der perfiden Masche, die mit der Sorge um Kinder spielt. Denn die Links, die angeblich zu Videoaufnahmen der Entführung führen sollen, sollen in die Falle dubioser Seiten locken, die eigentlich nur eines wollen: den Facebook-Namen und das Passwort. Damit können die Täter die Konten übernehmen und für eigene Cybercrime-Zwecke nutzen, so Mimikama.
Doch auch wer nur arglos die gefakten Fahndungsaufrufe verbreitet, macht sich zum Werkzeug der Cybercrime-Täter. Freilich können die Falschmeldungen auch aus anderen Gründen in die Welt gesetzt werden. Besonders Warnungen vor verdächtigen Personen im Umfeld von Schulen und Kindergärten. In Plüderhausen (Rems-Murr-Kreis) ging die Polizei der Anzeige einer Zeugin nach, die drei Personen bei der versuchten Entführung eines Kindes mit Roller beobachtet haben wollte. Die Verdächtigen konnten ermittelt, die Zeugenangaben als zweifelhaft, der Vorgang selbst als harmlos eingestuft werden. Dennoch wurden Fotos von drei Personen viral in sozialen Medien verbreitet.
Unnötig in Atem gehalten wurde die Polizei im vergangenen Jahr auch in Kornwestheim (Kreis Ludwigsburg), Sindelfingen-Maichingen (Kreis Böblingen) und Berglen (Rems-Murr-Kreis). Vergebens appellierte die Polizei, vermeintliche Warnhinweise nicht gedankenlos in sozialen Netzwerken zu teilen, sondern direkt an die Polizei weiterzuleiten. Dabei könnten so „ungerechtfertigte Warnmeldungen, die die Bevölkerung unnötigerweise verunsichern können, vermieden werden“, so ein Polizeisprecher.
Falsche Verdächtigungen: Zahl im Land steigt
Dass Fakes oft auf fruchtbaren Boden fallen, wundert Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, schon lange nicht mehr: „Die Geschichten sind präzise, farbig, plastisch – und haben eine innere Überzeugungskraft für Menschen, die Belege für ihre eigene Weltanschauung suchen“, sagt er. Statistisch lassen sich solche Münchhausen-Fälle nicht fassen, nicht immer lässt sich der Vorgang als strafrechtlich relevant einstufen. Zum großen Feld der erfundenen Verbrechen gehören besonders die Rubriken „Vortäuschen einer Straftat“ sowie „falsche Verdächtigung“ dazu.
2590 solcher Fälle sind in der Kriminalstatistik des Landes Baden-Württemberg für das Jahr 2024 registriert – ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Dies teilte das Innenministerium auf Anfrage unserer Zeitung mit. Allerdings mit unterschiedlichen Trends, wie Sprecher Patrick Knapp feststellt: „Die Zahl der falschen Verdächtigungen ist um sechs Prozent auf 1740 Fälle gestiegen“, so der Ministeriumssprecher. Das polizeilich registrierte Vortäuschen einer Straftat ist dagegen um 5,9 Prozent rückläufig. Wird mit der Vielzahl der Plattformen im Internet alles noch schlimmer? Nicht unbedingt: 2018, also vor der Coronapandemie, lag die Gesamtzahl der vorgetäuschten Delikte und falschen Beschuldigungen sogar noch bei 3000.