1. wa.de
  2. NRW

DruckenTeilen

Franz Hengsbach wurde als „Ruhrbischof“ verehrt. Doch er soll im Bistum Essen Missbrauchsfälle von Priestern nicht nur vertuscht haben, sondern selbst Täter gewesen sein.

Essen – Franz Hengsbach wurde als Held verehrt: 1971 übergab er auf einem dunklen Feldweg in Breitscheid das Lösegeld für den entführten Aldi-Gründer Theo Albrecht, der tags darauf freikam. „Kumpel Franz“ trug im Bischofsring ein Stück Kohle, kämpfte für den „Kohlepfennig“ und in der Stahlkrise für arbeitslose Jugendliche. Er war Pionier der polnisch-deutschen Aussöhnung, gründete das Südamerika-Hilfswerk Adveniat. Inzwischen gilt der Essener „Ruhrbischof“ und vormalige Paderborner Weihbischof auch als Missbrauchstäter.

Franz Hengsbach (1910-1991) war ab 1953 Weihbischof im Erzbistum Paderborn, ab 1958 Bischof des neuen Bistums Essen und wurde 1988 zum Kardinal ernannt.Franz Hengsbach (1910-1991) war ab 1953 Weihbischof im Erzbistum Paderborn, ab 1958 Bischof des neuen Bistums Essen und wurde 1988 zum Kardinal ernannt. © imago stock&people

Der Fall Hengsbach zeigt beispielhaft, wie die katholische Kirche in den vergangenen 15 Jahren daran gescheitert ist, den Missbrauchsskandal aufzuarbeiten. Dessen Ausmaß liegt weitenteils im Dunklen, Täternetzwerke wurden kaum nachgewiesen, trotz zahlreicher Hinweise auf Komplizenschaften zwischen Tätern, Vertuschern, Mitwissern.

Zwölf von 27 deutschen Bischöfen haben mittlerweile mit zerknirschten Mienen Studien über Sexualstraftäter in ihrem Kleriker-Personal entgegengenommen, im Februar 2023 auch Hengsbachs Nach-Nach-Nachfolger, der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck.

Forscher erhielten nicht alle Informationen

Doch es gibt Zweifel am Aufklärungswillen der Kirche, die in ihren Akten das Belastungsmaterial hütet und oft nur ungern zur Missbrauchs-Erforschung herausrückt. Oder auch nicht: In Essen steht der Vorwurf im Raum, dass den Forschern vom Münchner Institut IPP Informationen vorenthalten wurden, nämlich eine Beschuldigung gegen Hengsbach als Missbrauchstäter.

Im September 2023 gingen die Bistümer Paderborn und Essen an die Öffentlichkeit: Es gebe „gravierende Missbrauchsvorwürfe“ gegen den Paderborner Weihbischof (ab 1953) und Essener Gründungsbischof (ab 1958).

Da lag das Essener Gutachten seit einem halben Jahr vor. Die Bilanz: 423 Fälle, 201 Täter, Hengsbach tauchte lediglich als Vertuscher auf. Er habe dem „zeittypische[n] Verhalten von Verantwortlichen in der katholischen Kirche“ entsprochen, fehlende Empathie für die Opfer inklusive. Mit heutigem Wissen eine eklatante Verharmlosung.

Immerhin waren die IPP-Forscher laut NDR-Recherchen auf einen Missbrauchsvorwurf gegen Hengsbach gestoßen. Er stammte aus dem Jahr 2011 und von einem Mann, war 2014 aber wieder zurückgezogen worden. Die IPP-Leute fragten nach weiteren Beschuldigungen. Da gebe es sonst nichts, lautete die Antwort des Bistums Essen – und die war falsch.

Denn Overbeck kannte seit Jahren die Aussage einer Frau, die sich im Juli 2011 in Paderborn gemeldet hatte. Sie berichtete, dass sie 1954 als 16-Jährige von den Priester-Brüdern Franz und Paul Hengsbach missbraucht worden sei. Erzbischof Hans-Josef Becker meldete den Fall vorschriftsmäßig der Glaubenskongregation in Rom. Dort teilte Kongregationssekretär Luis Ladaria dessen Einschätzung, dass die Frau unglaubwürdig sei.

Strategie-Konferenz Demografie *** NUR F?R REDAKTIONELLE ZWECKE *** EDITORIAL USE ONLY ***<p>Der TeiHans-Josef Becker, Erzbischof von Paderborn (2002-2022). © VolkerxHartmann

Auf Roms Weisung hin leitete Paderborn den Fall nicht an die Zentralstelle der Deutschen Bischofskonferenz weiter für eine „Zahlung zur Anerkennung des Leids“. Laut Ladaria wäre das „Vorverurteilung (…), die kaum mehr aus der Welt zu schaffen wäre“. Er schloss vielmehr eine Seligsprechung für Franz Hengsbach nicht aus.

In Paderborn kam die Angelegenheit zu den Akten, Essen wurde über alles informiert – seither wusste Bischof Overbeck, dass es Missbrauchsvorwürfe gegen Hengsbach gab. Den IPP-Forschern wurde dies jedoch verschwiegen.

Bischof Franz-Josef Overbeck beim Pressegespräch zur Vorbereitung der Weltsynode in Rom auf der Herbst-Vollversammlung der Deutschen BischofskonferenzFranz-Josef Overbeck, Bischof von Essen © IMAGO/Peter Back

Im Oktober 2022 tauchte ein neuer Tatvorwurf auf, Tatjahr: 1967, Hengsbach war Bischof von Essen. Das musste die Paderborner Beschuldigung zum Jahr 1954 in ein anderes Licht rücken.

Für diese Neubewertung sorgte eine pensionierte Dortmunder Oberstaatsanwältin: Birgit Cirullies, die Vorsitzende der Unabhängigen Aufarbeitungskommission (UAK) im Erzbistum Paderborn. Diese Kommissionen gibt es in allen Bistümern; die ehrenamtlichen Mitglieder werden von Bistum, Landesregierung und Betroffenen benannt.

Birgit Cirullies, pensionierte Oberstaatsanwältin, leitet die Unabhängige Aufarbeitungskommission (UAK) des Erzbistums Paderborn. Birgit Cirullies, pensionierte Oberstaatsanwältin, leitet die Unabhängige Aufarbeitungskommission (UAK) des Erzbistums Paderborn. © Bezirksregierung Arnsberg

Cirullies ließ sich Akten zur Causa Hengsbach vorlegen – und weder Datenschutz- noch sonstige Einwände des Erzbistums gelten. Den mutmaßlichen Tathergang fasst die UAK so zusammen: Die Hengsbach-Brüder seien 1954 „allmonatlich aus dem Ruhrgebiet ins Sauerland“ gereist. „Die Betroffene, die als Hausangestellte arbeitete, war nach ihrer Darstellung in ihrem Zimmer von den Beschuldigten aufgesucht worden – jeweils nach deren Kaffeetrinken mit der Hausfrau. Beide Kleriker hätten dann sexuelle Handlungen an ihr vollzogen.“

Das Erzbistum hatte 2011 brüsk reagiert, wie ein Vermerk zeigt: „Die Behauptung, dass die Geschwister – Weihbischof und Neupriester – sich regelmäßig im Hause der Schwester der Haushälterin des Weihbischofs getroffen haben, scheint abwegig. Weihbischof [Franz Hengsbach] mag zwar einen Dienstwagen gehabt habe. Im Jahre 1954 hat der Neupriester [Paul Hengsbach] aber sicherlich nicht über einen fahrbaren Untersatz verfügt. Vom 07.05.1954 bis 01.11.1955 war Vikar [Paul Hengsbach] in Bochum eingesetzt. Da trifft man sich mit seinem Bruder, dem Weihbischof, nicht gelegentlich auf einen Kaffee tief im Sauerland. Der behauptete Sachverhalt scheint völlig abstrus.“

Mittlerweile wird der Frau geglaubt

Die UAK mit ihrer Vorsitzenden Cirullies, einer erfahren Ermittlerin, bemerkt dazu trocken: „Außer Acht bleibt bei dieser Einschätzung freilich der Hauptgrund für die Anfahrt der Beschuldigten zu dem Tatort im Sauerland.“ Und: „Die Plausibilität der entsprechenden Aussage der Betroffenen [wurde] in Frage gestellt (…), obwohl die Schilderung nicht durch objektive Tatsachen widerlegt wurde und eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für ihre Richtigkeit sprach.“

Mittlerweile halten die Bistümer Paderborn und Essen die Vorwürfe gegen die Brüder für glaubwürdig. Und es gibt weitere Beschuldigungen: Paul Hengsbach soll eine zweite Frau missbraucht haben, gegen Franz Hengsbach erheben mindestens acht weitere Personen diesen Vorwurf – Frauen und Männer.

Die Betroffene, die als Hausangestellte arbeitete, war nach ihrer Darstellung in ihrem Zimmer von den Beschuldigten aufgesucht worden – jeweils nach deren Kaffeetrinken mit der Hausfrau. Beide Kleriker hätten dann sexuelle Handlungen an ihr vollzogen.

Außerdem meldete sich in Essen ein Mann, der Franz Hengsbach für seinen biologischen Vater hält. Die Verwandtschaft soll über DNA-Proben der Hengsbach-Familie und ein Feststellungsverfahren am Familiengericht geklärt werden – Ergebnisse gibt es dem Vernehmen nach noch nicht.

Die Zölibatsverstöße des Bischofs, der sich als papsttreuer und erzkonservativer Hardliner profilierte, werfen auch ein trübes Licht auf sein Vorgehen gegen die Theologie-Professorin Uta Ranke-Heinemann (1927-2021).

Theologin Uta Ranke-Heinemann bei einer Talkshow am 20.09.1992Uta Ranke-Heinemann (1927-2021) war katholische Theologie-Professorin. © Horst Galuschka via www.imago-images.de

Er entzog ihr 1987 die Lehrbefugnis, nachdem sie sich mit wissenschaftlicher Expertise vom Dogma der Jungfrauengeburt distanziert hatte. Ranke-Heinemanns Kritik an der verpflichtenden Ehelosigkeit katholischer Priester („Eunuchen für das Himmelreich“) wies Hengsbach ebenfalls scharf zurück: Zweifel am Zölibat seien Anzeichen einer „Krise des Glaubens“.

Minderjährige zu Hengsbach gebracht?

Unter den Beschuldigungen gegen Hengsbach sind auch Hinweise, wonach er zu einem Täter-Netzwerk gehört haben könnte, das ihm Minderjährige zuführte. Ein Betroffener aus dem Bistum Köln schildert dies ebenso wie ein Mann aus dem Bistum Essen. Beide geben unabhängig voneinander an, dass Priester sie zu Hengsbach gebracht hätten und dass dieser gern „gekuschelt“ habe. Die Journalistin Gabriele Knetsch hat über einen der Betroffenen das Radio-Feature „Zerstörtes Leben“ verfasst, das am 27. Juni 2025 im Südwestrundfunk (SWR) lief. Darin wird aus Gesprächsprotokollen des Bistums Essen zitiert: „Der Betroffene erinnert sich dran, dass der Kardinal die Missbrauchshandlungen und die Brutalität des Herrn G. an der Tür stehend beobachtet habe, um sich im Anschluss daran ebenfalls an ihm zu vergehen.“

Inzwischen wird das ganze Leben von Franz Hengsbach beforscht, auch seine Ämter als Militärbischof und Vorsitzender des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. Beteiligt ist neben dem Historiker David Rüschenschmidt (Hamburg) auch das Münchner IPP, das schon die Essener Missbrauchsstudie erstellte und damals nichts Auffälliges zu Hengsbach finden konnte. – von Elisabeth Elling-Ruhwinkel

Die Serie

Seit der katholische Missbrauchskomplex 2010 bekannt wurde, befassen sich Experten und Ehrenamtler mit der Aufarbeitung, doch ist das Ausmaß noch immer nicht erfasst. Täter-Netzwerke wurden trotz zahlreicher Indizien kaum nachgewiesen. Darum geht es in dieser Serie. Dies ist der letzte Teil; bereits erschienen sind:

Teil eins: Täter bleiben anonym – Warum die Missbrauchsgutachten blind sind

Teil zwei: „Graue“ Komplizen: Wie Netzwerke von Täter-Priestern funktionieren