Man merkt schon: Dieser Autor lebt in Sachsen, genauer: in Leipzig. Es ist ein Bundesland, in dem man jede Menge Anregungen für gruselige Kinderbücher findet. Da muss man gar nicht weit gehen. Da reicht schon der Blick in die nächste Schule und in die seit 15 Jahren wild drehende Debatte um fehlende Lehrer. Die regierende CDU kriegt es nicht gebacken, Kinder und Eltern müssen es ausbaden. Und Boris Koch nimmt den Schrecken einfach wörtlich. Willkommen in der Schule des Schreckens.
Boris Koch denkt die ganze längst entuferte Debatte einfach weiter. Wenn schon Politiker davon reden, ältere Lehrer wieder zu reaktivieren, dann gibt es für die derart entgrenzte Debatte natürlich kein Limit. Woher denn auch? Dann kann man noch viel ältere Lehrer reaktivieren. Unter der Voraussetzung, sie haben geschworen, zurückzukommen. Und in jenem fernen, irgendwo in einem ganz anderen Bundesland gelegenen Eliteinternat namens Buchenschlag ist das sehr wohl möglich. Was Kilian Poberski noch nicht weiß, als ihm seine Eltern eröffnen, dass die kleine Familie in den Ferien umziehen wird und Kilian in eine neue Schule kommt.
Die alte Schule war zwar doof und voller Bullys aus den älteren Klassen. Aber da hatte Kilian auch seine Freunde. Er fühlt sich schon ein bisschen über den Tisch gezogen, als seine Eltern einfach bestimmen, dass die Familie mit Sack und Pack umzieht. Und da in ordentlichen Gruselromanen alles wörtlich zu nehmen ist, erlebt Kilian an seiner neuen Schule genau das, was sich andere Kinder bestenfalls nur wünschen oder vorstellen: Da steigen die alten Lehrer tatsächlich aus ihren Grüften, bereit, ihre Arbeit in der Schule wieder aufzunehmen.
Die Sache mit dem Stein der Weisen
Das allein könnte schon richtig gruselig werden – ganz abgesehen von der gruseligen Schule, die mal irgendwann ein Schloss war, voller Winkel, versteckter Gänge und Bibliotheken, in denen Kilian mit seinen neuen Freunden Ole und Yunai herumstromert. Denn natürlich stellt sich sehr bald heraus, dass irgendjemand die neuen alten Lehrer gar nicht mag. Und die Kinder der Hausangestellten – zu denen Kilian gehört – auch nicht.
Es ist wie bekannt: Irgendein Kerl aus den höheren Klassen muss unbedingt den Bully spielen. Und weil seine Eltern stinkreich sind, kommt er mit seinen Rüpeleien auch durch. Schulen sind ja immer wieder nur das schäbige Abbild der Gesellschaft. Man merkt es eigentlich schon: Schlimm an dieser Schule sind gar nicht die aus ihren Grüften zum Dienst zurückgekehrten Lehrer, auch wenn sie ihre Macken haben, noch veraltete Pädagogik im Kopf haben und mit der modernen Technik nicht umgehen können.
Aber sie bemühen sich und machen ihren Unterricht – wie der (Al)Chemie-Lehrer Stolzenberg auch schon mal zum Abenteuer. Ordentlich krachen kann es da auch schon mal. Aber als die Sache mit dem Stein der Weisen aufploppt, wird es erst recht spannend.
Bei so einem Thema denken die einen nur mit glühenden Augen an Gold, Gold, Gold. Und andere an die Macht, die der Stein der Weisen verleiht. Den zwar noch keiner je erschaffen hat. Auch der seiner Gruft entstiegene Herr Stolzenberg hat da so seine Zweifel. Aber wenn es den Stein nun doch gab? Ausgerechnet hier in Buchenschlag?
Ein-Achtel-Wahrheiten
Der Teppich ist ausgerollt. Der dramatische Höhepunkt der Geschichte bahnt sich an. Aber vorher fällt noch eine Meute von Journalisten, neugierigen und wütenden Menschen in Buchenschlag ein, kommt das Internat ganz groß in die Schlagzeilen der Boulevardpresse und man kann gar nicht überlesen, dass Boris Koch auch mit unseren wildernden Boulevardmedien eine Rechnung offen hat.
Vielleicht auch mit der ganzen närrischen Gesellschaft, die jeden Aufguss in fetten Lettern glaubt und nur zu bereit ist, zum lärmenden Mob zu werden, wenn sie nur ein Monster vorgesetzt bekommt, an das sie glauben kann . Oder einen Zombie oder Vampir oder was es der gespenstischen Gestalten noch gibt.
In den Köpfen verdammt vieler Leute wabert auch heute noch der alte Aberglauben, das Verlangen danach, die Welt mit unheimlicher Machenschaft erfüllt zu sehen und dann mit Knoblauch und angespitztem Pfahl loszurennen, um vermeintliche Untote zu jagen.
Nur dass die Lehrer aus den Grüften des Buchenschlager Friedhofs eben all das nicht sind. Nur eben echte Gruftis mit erstaunlich menschlichen Eigenschaften. Aber wer füttert eigentlich die Zeitung mit ihren Ein-Achtel-Wahrheiten, diesem Aufguss von Horrormeldungen, in denen nur ein Achtel stimmt, wie Kilian meint.
Der es liebt, lieber in Umwegen zu denken. Und sich freut, wenn er Lehrer trifft, die ebenso geübt sind darin, in Umwegen zu denken. Manch kleiner Leser wird sich wiedererkennen in diesem Kilian und seiner unbändigen Neugier, unbedingt herauszufinden, wer eigentlich hinter all den Machenschaften steckt, die das abgelegene Internat derart in Verruf bringen.
Wobei das Denken in Umwegen natürlich hilft. So umgeht man die scheinbar auf der Hand liegenden Lösungen und merkt, wie die einzelnen, scheinbar unerklärlichen Ereignisse in Buchenschlag am Ende miteinander zusammenhängen. Und während die Boulevardzeitung immer neue fast erfundene Geschichten über Buchenschlag veröffentlicht, ohne das Mindeste zur Aufklärung beizutragen, treibt die Geschichte auf den richtig schönen Höhepunkt zu, wie er nun einmal in echten Gruselgeschichten sein muss – mit Mitternacht und Gewitter und einem Kampf in der Dunkelheit, bei dem am Ende dann doch die gewinnen, die ein bisschen weiter gedacht haben.
Die Gespenster der Gegenwart
Womit das Buch eben auch eine Geschichte über echte Freundschaft ist, über das Nicht-Kleinkriegenlassen und über eine Welt, in der sich viele Erwachsene genauso verhalten wie die Bullys in der Schule, genau so eingebildet und rücksichtslos. Da wirken selbst die doch vom langen Liegen etwas mitgenommenen Lehrer weniger gruselig als der Reporter mit dem gelben Schlips, der gar nicht wissen will, was wirklich vor sich geht, sondern seinen diabolischen Spaß daran hat, die Leute mit fast komplett erfundenen Gruselgeschichten für blöd zu verkaufen.
Womit man wieder in der hiesigen Wirklichkeit wäre, in der die eigentlichen Gespenster in Schlips und Kragen herumlaufen und das Bullying zu ihrer Lebensmaxime gemacht haben. Die jungen Leser dieses ersten Bandes aus der „Schule des Schreckens“ werden so manches wiedererkennen, was einem im Leben in der Gegenwart begegnet und so ein dumpfes Gefühl von Grusel verursacht, weil man spürt, dass die Maske nicht stimmt. Nur weiß man nicht, ob dahinter tatsächlich ein Grufti steckt oder nur ein eiskalter Bully, der an der Schikanierung der Schwächeren seinen Spaß hat.
Illustriert ist das Ganze von Michael Hülse, der schon dutzende von Kinderbüchern illustriert hat. Nur dass er es bei einigen Grafiken nicht beließ, sondern auch fröhlich in den Text eingriff und Gruseln, Schreien, Entsetzen und plötzliche Erkenntnis wild in galoppierende Zeilen verwandelte – samt Spinnen, Herzen und Totenschädeln, wie sich das für ein richtig schönes Gruselbuch gehört.
Und wer eine zu lebhafte Fantasie hat, der sollte das Buch vielleicht nicht unter der Bettdecke lesen, sondern lieber bei Tageslicht, wenn auch die Eltern da sind, zu denen man flüchten kann, wenn einem die Geschichte doch zu lebhaft wird. Oder zu gruselig. Wer schon im Gruseln geübt ist, der wird seinen Spaß haben.
Boris Koch „Schule des Schreckens. Die Gruftis sind los“, WooW Books, Atrium Verlag, Zürich 2025, 15 Euro.