Migräne trifft Frauen deutlich öfter als Männer – das ist der Grund
Oft werde Migräne als «hysterisches Frauenleiden» abgetan, sagt die Initiative für Frauengesundheit «HerHealth». Gerade Frauen trauten sich deshalb oft nicht, zu ihrem Leiden zu stehen, und verschwiegen es am Arbeitsplatz.
Viele Frauen geben sich nicht als Migränikerinnen zu erkennen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden.
Bild: Ekaterina Goncharova / Getty
Die 49-jährige Frau mit Migräne will nun doch nicht vor Publikum im Club Herkules in Zürich sprechen. An ihrer Stelle erscheint ein Avatar auf dem grossen Bildschirm. Das zeige, dass Migräne immer noch ein Tabu sei. Menschen, insbesondere Frauen, würden stigmatisiert, wenn sie Migräne hätten, sagt Sonia Fröhlich de Moura von der Organisation «HerHealth». Diese setzt sich für Frauengesundheit in der Schweiz ein und hat diesen Anlass mit drei Migräne-Experten und -Expertinnen organisiert.
Der Avatar Lisa erzählt nun von einer «schier unerträglichen Last». Über Jahre litt Lisa an starker zyklischer Migräne mit Aura und an Endometriose, einem krankhaften Vorkommen der Gebärmutterschleimhaut ausserhalb der Gebärmutterhöhle im Beckenbereich. Sie hatte durchschnittlich 23 Tage Migräne pro Monat. Eine Endometriose-Therapie linderte auch die Migräne ein wenig. Die Gynäkologin empfahl ihr im Zusammenhang mit der Endometriose-Behandlung, die Eierstöcke entfernen zu lassen. Aber noch war Lisa nicht in der Menopause.
Zur Operation konnte sie sich vorerst nicht durchringen. Doch mit der Zeit war sie durch die Migräne so geschwächt, dass sie sich doch entschied, Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter entfernen zu lassen. Die Migräne-Belastung hat sich seitdem vermindert. «Das Leiden ist nun managebar, ich habe noch vier oder fünf Tage Migräne pro Monat. Aber die besten Jahre habe ich verpasst», sagt der Avatar Lisa zum Schluss.
Natürlich sei eine solch schwere Operation nicht der gängige Weg, um Migräne loszuwerden, sagt der Neurologe Andreas Gantenbein von der Reha-Klinik ZurzachCare. Vielleicht hätte ihr gegen die Migräne allein auch eine der neueren Migräne-Therapien geholfen. Das Beispiel zeige, dass man mit einer Abklärung und einer Therapie nicht abwarten sollte. Hier spiele aber die Stigmatisierung von Migränikerinnen und Migränikern eine starke Rolle. Viele hätten Angst, ihre Stelle zu verlieren, wenn sie deswegen zu viel am Arbeitsplatz fehlten. Das wiederum erhöht den Stress zusätzlich, was ein Hauptauslöser für Migräne ist.
Eine Million Betroffene in der Schweiz
Schätzungsweise leiden eine Million Menschen an Migräne, rund 800’000 davon sind Frauen. Die Migräne trifft nicht jeden oder jede gleich hart, und nicht jede Betroffene ist ein Fall für den Neurologen. Aber rund 250’000 Menschen in der Schweiz kämpfen mit einer chronischen Form der Migräne mit mindestens fünfzehn Migränetagen pro Monat. Ein Anfall kann zwischen 4 und 72 Stunden dauern, bei einem Fünftel der Betroffenen wird er von einer Aura begleitet: Das sind zum Beispiel Sehstörungen, extreme Licht- und Lärmempfindlichkeit, Sprachstörungen, Taubheit sowie Übelkeit und Erbrechen.
Eine Familienhäufung bei der Migräne-Veranlagung wurde immer wieder festgestellt. Im Jahr 2020 haben Neurowissenschafter der Universität Zürich den Mechanismus in einer Studie entschlüsselt, der für familiär bedingte Migräne verantwortlich ist. Sie fanden heraus, dass wegen einer genetischen Fehlfunktion bestimmte Hirnzellen, die für Schmerzverarbeitung zuständig sind, überschüssige Reize nicht abbauen können. Stattdessen entstehen migränetypische starke Kopfschmerzen.
Eine eher unterschätzte und zu wenig diagnostizierte Erkrankung sei die Migräne auch, weil es dafür keinen biologischen Marker gebe, wie Reto Agosti vom Kopfwehzentrum Hirslanden erklärt. Dazu müsste eine Patientin genau dann unter dem MRI liegen, wenn die Migräneattacke beginnt. Dann liesse sich die Aktivität im Hirn sehen, im Alltag ist so eine Diagnose aber nicht möglich.
Was genau die Migräne verursacht, ist immer noch nicht abschliessend geklärt. Sicher ist der Auslöser neurologisch. Dabei spielen die Übertragungsstoffe, Hormone wie Dopamin und am allermeisten Serotonin, eine grosse Rolle.
Die Schwierigkeit ist zudem, dass meist mehrere Faktoren zu einem Migräneanfall führen. So ist der exakte Trigger schwer ausfindig zu machen. Neben der Veranlagung, sich selbst unter Stress zu setzen, gibt es noch weitere Auslöser wie schlechten Schlaf, Alkohol und Leistungssport. «Ich habe einer Kollegin ein Opernticket bestellt. Die Freude darüber war ein emotionaler Trigger, der Migräne auslöste», erzählt Agosti. Mit dem Opernbesuch wurde es dann nichts. Agosti erzählt von einem Hockeyspieler der höchsten Liga, der bei ihm in Behandlung ist. Dieser hat nach jedem Spiel starke Migräne, aber nie nach einem Training. Das nennt sich leistungsinduzierte Migräne.
Dass viel häufiger Frauen von Migräne betroffen sind, hat zum grossen Teil mit den Hormonen zu tun. Ein grosser Teil der Patientinnen leidet wegen menstrualer Migräne, die vor oder während der Menstruation auftritt.
Gemäss Agosti sind zum Beispiel Flugbegleiterinnen, die an Jetlag leiden, oft Migränikerinnen, ebenso Pflegepersonal wegen der Nachtschichten. Homeoffice sei für viele Migränikerinnen ein Segen. Patientinnen, die er auf Homeoffice setzt, hätten dann oft fast keine Migräne mehr. Dies, weil der Stress wegen des Arbeitswegs entfalle.
Das Fehlen am Arbeitsplatz erzeugt hohe Kosten
Obwohl viele betroffen sind, suchen gemäss HerHealth 42 Prozent der Betroffenen nie ärztliche Hilfe auf, wegen der genannten Stigmatisierung, der Bagatellisierung sowie der Unwissenheit oder der Resignation. Das erzeugt nicht nur Leiden, sondern auch Kosten. Drei Millionen Arbeitstage gehen in der Schweiz jedes Jahr durch Migräne verloren, das entspricht 600’000 Millionen Franken für die Arbeitgeber.
Die Forschung hat inzwischen wirksame Therapien entwickelt. Agosti spricht von einem Drei-Säulen-Prinzip: Zum ersten die schnelle Behandlung einer Attacke: Das Hormon Serotonin ist eine Migräne-Bremse, das in den Medikamenten mittels des Wirkstoffs Triptane zum Einsatz kommt. Dann gibt es neue CGRP-Antikörper mit dem Markennamen Vydura. CGRP steht für die Substanz «Calcitonin Gene-Related Peptid» (CGRP), von der Menschen, die an Migräne leiden, erhöhte Konzentrationen aufweisen. Das Medikament blockiert dieses CGRP.
Die zweite Säule ist die medikamentöse Vorbeugung. «Vor dreissig Jahren ist man auf Botox gestossen. Beim Faltenspritzen in Beverly Hills war plötzlich die Migräne weg», sagt Agosti. Botox setzt er schon lange ein. «2002 war ich noch ein Botox-Pionier. Jetzt ist es durch Studien belegt worden, dass es eine sehr gute Prophylaxe ist.» Agosti spritzt seinen Patientinnen alle drei Monate für die Migräne-Prophylaxe das Botulinumtoxin.
Drittens gibt es auch die nicht medikamentöse Prophylaxe. Agosti empfiehlt Entspannungsübungen. Andere setzen auf Akupunktur, «deren Wirksamkeit tief ist. Aber sie ist beliebt, da spielt die Psychologie eine Rolle.» Ernährungsberatung kann helfen. Als wirksam gilt die Einnahme von Riboflavin, einem Vitamin-B2-Konzentrat, das auch von den Krankenkassen übernommen wird. Ubiquinol, ein Coenzym, das im Körper Energiegewinnung und Zellschutz unterstützt. Auch empfiehlt Agosti Magnesium.