In Groß-Umstadt gibt es ein graues Schiff, das vielen Bürgern seit Kindheitstagen bekannt ist. Das erschließt sich nicht von selbst, denn die örtlichen Gewässer wären kaum mit einem Schlauchboot befahrbar. Das grau gestrichene Holzboot befindet sich in der Kinderabteilung der Groß-Umstädter Bücherkiste. „Das steht hier schon seit 25 Jahren und ist für viele Besucher die Hauptattraktion“, sagt die Inhaberin Elena Rakowitz.
2023 hat sie die traditionsreiche Buchhandlung in der verwinkelten Curtigasse inmitten der restaurierten Altstadt von Groß-Umstadt übernommen. Nur zwei Jahre später bekommt sie von der Hessischen Staatskanzlei und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Auszeichnung „Hessens beste Dorfbuchhandlung 2025“ verliehen. Obwohl Groß-Umstadt genau genommen kein Dorf, sondern samt Eingemeindungen eine Stadt mit rund 22.000 Einwohnern ist.
Warum dieser mit 10.000 Euro dotierte Preis an die „Bücherkiste“ ging, hat damit zu tun, dass sie weit mehr als eine Buchhandlung ist. Der Jury hat besonders gefallen, wie viele auch ungewöhnliche Veranstaltungen das Unternehmen anbietet. Damit erreiche die Bücherkiste Personen, die normalerweise eher nicht zum Buch greifen. „Wir bieten unter anderem einen literarischen Escape-Room an“, sagt Rakowitz. „Die Kunden werden im Laden eingeschlossen und müssen Rätsel lösen, die etwas mit Büchern zu tun haben.“
So geht es um eine Autorin, die verschwunden ist, die Gäste des Escape-Rooms müssen herausfinden, was passiert ist. Dafür ist sogar eine Schreibmaschine umgebaut worden: Sie druckt andere Buchstaben ins Papier, als man eintippt. Und selbstverständlich gibt es Briefe, um auf die richtige Spur zu kommen. „Ein Notausgang bleibt natürlich die ganze Zeit über offen“, sagt Rakowitz lachend.
Selbstverständlich finden in der Bücherkiste auch regelmäßig Lesungen statt. Auf einem Plakat stehen die Namen einiger Autoren, die der Bücherkiste bereits einen Besuch abgestattet haben, darunter auch sehr bekannte wie Günter Wallraff, Wladimir Kaminer, Roger Willemsen, Ingrid Noll und Peter Kurzeck. Regelmäßig lesen hier aber auch Krimiautoren und Schriftsteller aus der Region. Die Lesungen moderiert Rakowitz, Jahrgang 1992, selbst, was neben ihren Jobs als Buchhändlerin und Traumapädagogin zusätzlichen Arbeitsaufwand bedeutet. „Besonders gut laufen bei uns Abende, an denen wir das Literarische mit dem Kulinarischen verbinden“, sagt Rakowitz. „Wir hatten kürzlich die Kochbuchautorin Ingrid Schick zu Gast. Die hat ein Buch über die Zubereitung hessischer Tapas veröffentlicht und diese dann auch unseren Kunden serviert.“ Dafür kooperiert die Bücherkiste allerdings mit örtlichen Restaurants, sonst würden die Abende die Kapazitäten der Buchhandlung sprengen.
Natürlich gibt es in der Umstädter Bücherkiste auch Krimis.Lucas Bäuml
Gegründet worden ist die Bücherkiste 1983 von Elke Reyher-Günther, Rakowitz’ Mutter. „Ich bin als Kind zwischen diesen Regalen aufgewachsen und habe früh mit angepackt“, sagt sie. „Daher waren mir später viele Abläufe im täglichen Geschäft bereits bekannt.“ Dennoch habe sie viele Dinge neu lernen müssen. Insbesondere die Hintergrundaufgaben im Büro seien zunächst eine Herausforderung gewesen. Im Unterschied zu ihren Mitarbeitern habe sie keine Ausbildung als Buchhändlerin absolviert. Nach der Schule hatte Rakowitz andere Pläne: „Ich habe gesehen, wie viel Zeit meine Mutter hier verbracht hat. Das konnte ich mir damals für mein Leben nicht vorstellen.“ Also wurde sie Sozialarbeiterin und ließ sich zur Traumapädagogin ausbilden. In diesem Beruf arbeitete sie eine Zeit lang. Als Reyher-Günther das Geschäft aufgeben wollte, war erst einmal unklar, wie es mit der Bücherkiste weitergehen sollte. Sie sollte verkauft werden.
Rakowitz arbeitet auch als Traumapädagogin
„Als ich schließlich die Verträge in den Händen hielt, konnte ich den Verkauf nicht über mein Herz bringen“, sagt Rakowitz. Sie übernahm die Bücherkiste 2023 – im selben Jahr feierte das Geschäft sein vierzigjähriges Bestehen. Ein Kompromiss für diesen Schritt sei jedoch gewesen, dass Rakowitz in begrenztem Umfang ihrem ursprünglichen Beruf nachgehen kann. „25 Stunden pro Woche bin ich im Laden, drei Stunden arbeite ich als Traumapädagogin.“
Mit der Bücherkiste verantwortet sie nun weit mehr als ein Buchgeschäft. „Abgesehen von Touristen, die sich die nahe gelegenen Weinberge anschauen, besteht unsere Kundschaft vor allem aus Stammkunden. Die kommen zum Teil schon seit Jahrzehnten zu uns, da tauscht man sich auch über Privates aus“, sagt Rakowitz. Damit spiele die Bücherkiste für die Gemeinschaft im Ort eine große Rolle. „Diese persönliche Kundenbindung unterscheidet eine Dorfbuchhandlung sicherlich von denjenigen in Großstädten.“
Viel Angebot für Kinder zeichnet die Bücherkiste aus.Lucas Bäuml
Mit Rakowitz als Geschäftsführerin kam auch ein frischer Wind in die Bücherkiste. Als Erstes hat sie etliche der hölzernen Bücherregale entfernt. „Das habe ich gemacht, um den Laden etwas heller und moderner zu gestalten“, sagt Rakowitz. Das Holzschiff aber ist geblieben.
In der Kinderabteilung stehen weiter die „Geburtstagskörbe“ mit Namen, Datum und den Wünschen der Geburtstagskinder unter den Regalen, sie hat schon Rakowitz’ Mutter eingeführt. Weit entfernt von der Kinderabteilung, auf der anderen Seite des Ladens, befindet sich das Regal für New-Adult-Literatur. Man kann das Sortiment leicht an den pastellfarben schattierten Buchrücken erkennen. „Diese Bücher haben wir von den übrigen abgegrenzt, da sie viele ‚spicy‘ Szenen enthalten, einige sind zudem sehr gewaltvoll“, erläutert Rakowitz die räumliche Trennung. Bei den jungen Lesern seien diese Bücher aktuell sehr begehrt.
Farbschnitte sind schnell vergriffen
Insbesondere die Farbschnitte der Erstauflagen seien schnell vergriffen. Derzeit versuche man, Lesekreise und Veranstaltungen gezielt für junge Menschen zu etablieren. „Außerdem mache ich viel Werbung auf Instagram“, sagt Rakowitz. Auf dieser Plattform hat der Account der Bücherkiste etwas mehr als 1400 Follower. Das ist zwar beileibe keine astronomische Zahl, für eine Dorfbuchhandlung ist es aber auch nicht gerade wenig.
Gleich neben der New-Adult-Sektion gibt es ein Regal, in dem gerade handgemachte Notizbücher angeboten werden. „Bei uns kann man monatsweise Regale mieten, um eigene Produkte zu verkaufen“, sagt Rakowitz. Das werde insbesondere für Handarbeiten von Ortsansässigen genutzt. Außerdem gibt es ein eigenes Regal für Manga-Comics, das eine kleine Treppe hoch in einem etwas versteckten Raum liegt. Auch das ist Rakowitz’ Idee.
„Meine Mutter war Neuem gegenüber skeptisch eingestellt, ein Mietregal hätte sie abgelehnt“, sagt Rakowitz. Sie setzt auf die persönliche Bindung zu langjährigen Kunden. Betritt man den Laden, läuft man auf einen runden Tisch zu, auf dem Rakowitz und ihre Mitarbeiter Neuerscheinungen drapiert haben. Außerdem gibt es ein Sortiment persönlicher Buchempfehlungen sämtlicher Mitarbeiter. Rakowitz empfiehlt aktuell „Nachts erzähle ich dir alles“ von Anika Landsteiner, „Hey guten Morgen, wie geht es dir“ von Martina Hefter und „Für Polina“ von Takis Würger.
In Zeiten, in denen der Onlinehandel den stationären Buchhandel auf dem Markt zunehmend bedroht, scheint die Strategie von Rakowitz aufzugehen: ein vielfältiges Angebot zu schaffen, um möglichst alle Menschen anzusprechen. Mit dem Preisgeld will sie daran anknüpfen: Es soll einen neuen Raum für verschiedene Workshops finanzieren.
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