In Berlin leben etwa 510.000 Kinder unter 15 Jahren. 610 davon sind im vergangenen Jahr als aktive Verkehrsteilnehmer verunglückt, also mit dem Rad oder zu Fuß. Ist das viel oder wenig?
Das Maß, an dem wir uns orientieren sollten, ist die Vision Zero – also das Ziel, dass niemand im Straßenverkehr schwer verunglückt. In der Mehrmillionenstadt Berlin ist das Verkehrsgeschehen vergleichsweise komplex und das Ablenkungspotenzial für Kinder hoch. Im Bundesvergleich waren verunglückte Kinder hier mehr zu Fuß und weniger mit dem Rad unterwegs. Das liegt an den relativ kurzen Wegen und am öffentlichen Nahverkehr, den man in der Regel zu Fuß erreicht.
Laut Polizei waren zwei Drittel der Kinder die Hauptverursacher „ihrer“ Unfälle. Ergibt diese Definition überhaupt Sinn, wenn dieselben Kinder gleichzeitig aus guten Gründen strafunmündig sind, also im juristischen Sinne niemals schuldig?
„Hauptverursacher“ und „Schuldige“ sind zweierlei. Natürlich können Kinder Unfälle verursachen. Mangelhafte Infrastruktur kann das Risiko erhöhen, zumal vor allem jüngere Kinder noch gar nicht so weit entwickelt sind, dass sie sich für die Situation richtig verhalten können. Die Schuldfrage klären oft Gerichte. Aber dass die Polizei am Unfallort die Ursachen erfasst, ist auch für Prävention und die Erkennung von Unfallschwerpunkten wichtig.
Zur Person
Kirstin Zeidler leitet seit Februar 2024 die in Berlin-Mitte ansässige Unfallforschung der Versicherer (UDV) im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Sie wuchs in Leipzig auf, studierte Betriebswirtschaftslehre und volontierte in einer Kölner Kommunikationsagentur. Danach machte sie Öffentlichkeitsarbeit für ADAC, Versicherungskammer Bayern und Deutschen Ring. Ende 2010 kam sie nach Berlin zum GDV, wo sie bis zu ihrem Wechsel zur UDV ein Team in der Kommunikation leitete.
Kirstin Zeidler, Leiterin der Unfallforschung der Versicherer.
© Tagesspiegel/Mario Heller
Werden Infrastrukturmängel denn systematisch erfasst und beseitigt?
Wir haben in Berlin rund 1600 dokumentierte Unfallhäufungsstellen, die systematisch abgearbeitet werden – wenn auch deutlich langsamer, als nötig wäre.
Häufigste Ursache von Kinder-Unfällen ist laut Polizei „Nichtbeachten des Fahrzeugverkehrs“, wobei die Statistik nicht verrät, wie schnell dieser Verkehr war und ob ein Kind ihn zwischen parkenden Autos überhaupt rechtzeitig sehen konnte. Beginnt das Problem schon bei der Erfassung des Unfallgeschehens?
Unfälle haben häufig mehrere Ursachen. Bis zu drei kann die Polizei erfassen. Eine davon kann die Geschwindigkeit sein, mit der das Auto gefahren wurde. Die Straßenverkehrsordnung regelt, dass man jederzeit anhalten können muss, ohne andere zu gefährden.
Vielen ist aber nicht klar, dass die angegebene Höchstgeschwindigkeit selten die richtige ist. Das angesetzte Tempolimit darf ich nur unter absolut idealen Bedingungen fahren: freie Sicht, Straße trocken, keine Kinder am Fahrbahnrand. Diese Idealbedingungen werden Sie in Städten selten vorfinden. Deshalb ist „unangepasste Geschwindigkeit“ eine der häufigsten Unfallursachen – und nicht zu verwechseln mit „überhöhter Geschwindigkeit“, bei der deutlich überm Limit gefahren wurde.
Und was ist mit der Sichtbehinderung? Heutzutage sind viele Autos ja so hoch, dass sie selbst Erwachsenen die Sicht versperren.
Kinder sollen nicht zwischen parkenden Autos die Fahrbahn überqueren, sondern an Stellen mit guter Sicht. Dafür brauchen sie aber genug solche Stellen. Daran mangelt es in Berlin ganz eindeutig. Wir bräuchten viel mehr Zebrastreifen, Mittelinseln, Ampeln und Gehwegvorstreckungen – und zwar dort, wo vor allem viele Ältere und Kinder über die Straße wollen. Die Bezirksämter sollten diese Stellen kennen und dort Querungshilfen schaffen, an denen dann auch Halteverbot gelten muss für freie Sicht.
Gibt es Forschungserkenntnisse dazu, ob mit der Größe der Autos und dem Trend zum SUV auch die Gefahr gewachsen ist?
Unabhängig von Fahrzeuggrößen wissen wir aus der Forschung, dass bei jedem fünften Unfall mit Beteiligung eines Fußgängers oder Radfahrers parkende Autos eine Rolle spielen, etwa weil die Sicht verdeckt ist. Das betrifft vor allem Kreuzungen und Einmündungen als neuralgische Stellen, aber auch lückenlos zugeparkte Straßenränder.
Was die SUV betrifft, die übrigens als Kategorie gar nicht klar definiert sind, können höhere Fronten tatsächlich ein Risiko für schwerere Verletzungen bei kleineren Fußgängern sein. Aber die Verletzungsgefahr hängt auch von vielen anderen Details ab. Wir wissen zum Beispiel, dass es bei flachen, kurzen Motorhauben für Fußgänger besonders gefährlich wird, wenn das Unfallopfer mit dem Kopf genau auf die härtesten Stellen des Autos, rund um die Frontscheibe, trifft. Aber auch Assistenzsysteme und die Fahrweise haben Einfluss.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Berliner Verkehrspolitik unter dem Gesichtspunkt des Kinderschutzes?
Gut ist, dass es jetzt das Verkehrssicherheitsprogramm 2030 gibt. Darin stehen viele Themen, die wir unterstützen, zum Beispiel Querungshilfen, Schulwegsicherheit, Mobilitätsbildung, Verkehrsüberwachung und die Veränderung von Ampelschaltungen, sofern damit separate Grünphasen für Geradeausverkehr und Rechtsabbieger gemeint sind. Bei der Verkehrsbildung steht Berlin schon ganz gut da. Ein großer Vorteil ist auch der relativ späte Wechsel auf weiterführende Schulen erst zur siebten Klasse. Dadurch können die meisten Kinder lange zur Grundschule in ihrem Kiez gehen und haben erst später die längeren Wege. Auch das kostenlose Schülerticket inklusive Fahrradmitnahme zahlt auf die Verkehrssicherheit ein.
Das angesetzte Tempolimit darf ich nur unter absolut idealen Bedingungen fahren.
Kirstin Zeidler, Leiterin der Unfallforschung der Versicherer
Die Frage ist, was aus dem Verkehrssicherheitsprogramm tatsächlich umgesetzt wird. Zu sicheren Schulwegen gehört auf jeden Fall der Ausbau von Radwegen, der ja gerade nicht so vorankommt. Nächster Punkt ist das Zuparken von Kreuzungen, das notfalls baulich verhindert werden muss – durch Poller, Fahrradbügel oder flache Blumenkübel. Und wenn da verbotenerweise jemand parkt, gehört er abgeschleppt. Außerdem bräuchten wir mehr Blitzer und genug Personal in der Bußgeldstelle, damit die Bescheide rechtzeitig rausgeschickt werden.
Was bringt die vor kurzem in Kraft getretene StVO-Novelle?
Die schafft den Kommunen sehr viel mehr Möglichkeiten, Höchstgeschwindigkeiten zu begrenzen, ohne dass sie dafür eine Gefahrenlage nachweisen müssen. Laut dem Berliner Verkehrssicherheitsprogramm ist das aber nur im Zusammenhang mit Unfallhäufungen geplant.
Wohnstraßen ohne Durchgangsverkehr könnten auch Kindern ermöglichen, sich sicherer in der Stadt zu bewegen. Mehrere Bezirke wollen das mit „Kiezblocks“ erreichen und Durchgangsverkehr mit Pollern fernzuhalten. Die Verkehrssenatorin lehnt das ab und hat den Bezirken das Geld dafür gestrichen. Verstehen Sie das?
Zum Unfallgeschehen durch Kiezblocks haben wir bisher keine Forschungsergebnisse. Dass weniger Verkehr die Aufenthaltsqualität erhöht, steht außer Frage, aber das ist nicht mein Metier. Wenn der Senat den Bezirken dieses Geld streicht, sollte er es an anderer Stelle in die Verkehrssicherheit investieren.
UDV-Chefin Kirstin Zeidler an der Ecke Leipziger Straße/Wilhelmstraße, einem Unfallschwerpunkt.
© Tagesspiegel/Mario Heller
Angenommen, Sie wären Verkehrssenatorin in Alleinherrschaft: Was würden Sie als Erstes tun für mehr Kindersicherheit?
Zuallererst würde ich mir die Querungshilfen und Kreuzungen vornehmen, systematisch Ampelphasen trennen. Ich würde auch schauen, wie sich die neue StVO für mehr Sicherheit nutzen lässt. An die Eltern würde ich appellieren, ihre Kinder so wenig wie möglich ins Auto zu setzen, sondern sie von der Kita an zu Fuß und später auf dem Rad zu begleiten, ihnen viel zu erklären und Vorbild zu sein, indem man beispielsweise konsequent mit Helm radelt.
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Unfälle mit Beteiligung von Kindern erfasste die Berliner Polizei 2024.
Zusätzlich würde ich in weiterführende Radfahrtrainings für die 5. und 6. Klassen investieren. Viele Eltern überschätzen die Bedeutung der bisher üblichen Radfahrprüfung in der 4. Klasse. Diese Prüfung dokumentiert wichtige Basiskenntnisse, aber heißt keineswegs, dass Kinder sich dann sicher im realen Verkehr bewegen können. Linksabbiegen ist beispielsweise hochkomplex: Sie müssen bei sehr geringem Tempo und mit ausgestrecktem Arm das Gleichgewicht halten, den Verkehr von hinten und von vorn beachten, bremsen, Kurven fahren. Das lässt sich auch hervorragend auf Tretrollern trainieren.
Aus der Forschung ist bekannt, dass jüngere Grundschulkinder kognitiv noch gar nicht in der Lage sind, sich mit schnellem Autoverkehr zu arrangieren. Müsste angesichts dieser Erkenntnis der Fokus nicht viel stärker auf kindergerechtem Verkehr liegen als auf verkehrsgerechten Kindern?
Eltern sollten ihre Kinder nicht zu früh allein losschicken. Dass Kinder nach dem Fahrradführerschein auch allein fahren können, ist nur eine Faustregel. Wenn Eltern die Wege mit ihren Kindern häufig gemeinsam absolvieren und sich nach und nach zurücknehmen, bekommen sie ein gutes Gefühl dafür, was sie ihren Kindern zutrauen können.
Kinder brauchen auch motorische Herausforderungen. Je sicherer ein Kind sein Fahrrad beherrscht, desto mehr geistige Kapazität bleibt ihm, in einer plötzlich auftretenden Situation richtig zu reagieren. Diese Intuition wächst mit der Übung. Wobei man sich die Routine auf einem muskelbetriebenen Rad antrainieren sollte, nicht auf einem E-Bike oder E-Scooter.
Ein besonderes Streitthema sind Tempolimits: Während die StVO neuerdings mehr Tempo 30 ermöglicht, will der Senat an einigen Straßen zurück zu Tempo 50, weil die Luft dort besser geworden ist. Leuchtet das ein?
Wenn der Grund „Luftreinhaltung“ wegfällt, kann eine Behörde dort tatsächlich nicht einfach die 30er-Schilder hängen lassen. Es sei denn sie kann das Limit aus anderen Gründen anordnen: wegen Zebrastreifen, Schulwegen oder als Lückenschluss zwischen vorhandenen Tempo-30-Abschnitten. Das ist mit der StVO-Novelle deutlich einfacher geworden.
Eine Studie Ihrer Unfallforschung hat ergeben, dass viele Kinder selbst die Annäherung von Autos mit Tempo 30 falsch einschätzen und schlimmstenfalls im falschen Moment loslaufen. Sind 30 km/h vor Grundschulen womöglich immer noch zu viel?
Es ging in unserer Studie ums ungesicherte Überqueren, also ohne Mittelinsel oder Zebrastreifen. Es ist für Kinder sehr anspruchsvoll, sich auf Verkehr aus zwei Richtungen zu konzentrieren. Die Mittelinsel ist die ideale Lösung, Zebrasteifen und Ampeln sind Alternativen. Und noch wichtiger als das konkrete Tempolimit sind Kontrollen, dass es auch eingehalten wird. Noch geringere Limits als Tempo 30 oder die komplette Sperrung von Straßen vor Schulen scheinen mir nur ausnahmsweise sinnvoll.
Warum? Paris schafft gerade hunderte solcher temporär autofreien „Schulstraßen“.
Das mag hier und da etwas bringen, aber in vielen Fällen verlagern Sie das Elterntaxi-Problem damit nur an die nächste Ecke. Der Schulweg beginnt aber schon zu Hause.
Noch ein auswärtiges Vorbild: In Helsinki, wo fast überall Tempo 30 gilt, ist seit mehr als einem Jahr kein Mensch mehr im Verkehr gestorben. In Berlin haben wir – bei zugegebenermaßen mehr fünffacher Einwohnerzahl – allein in diesem Jahr schon mehr als 20 Verkehrstote zu beklagen.
Das Beispiel Helsinki ist beliebt, aber die Begründung mit dem Tempolimit greift zu kurz. Es gilt dort auf gut der Hälfte der Straßen, aber Helsinki hat ganz massiv und intelligent in Infrastruktur, Verkehrserziehung, ÖPNV und Kontrollen investiert.
In der deutschen StVO gilt weiterhin, dass schon für Zehnjährige auf der Fahrbahn radeln müssen, wenn es keinen Radweg gibt. Kein schöner Gedanke für Eltern. Was raten Sie denen?
Den Eltern rate ich, ihre Kinder möglichst lange zu begleiten. Und Schulen und Bezirksämtern rate ich, konsequent Radschulwegpläne für alle Schulen zu erarbeiten. Oft lohnt ein kleiner Umweg für mehr Sicherheit. Aber es stimmt: Nicht überall findet man eine sichere Strecke, und dann wird es wirklich schwierig.
Sicher durch den Verkehr in Berlin Gefahren auf dem Schulweg So machen Eltern ihre Kinder fit für den Berliner Verkehr Eltern fordern sichere Schulwege in Lichtenberg Berliner Senat sieht aber keine Notwendigkeit „Wir werden täglich aufgehalten“ Mehr Halteverbote sollen der Feuerwehr in Berlin-Friedenau helfen
Wie viel Sicherheitsgewinn ist von künftigen Autos noch zu erwarten, Stichwort Fußgängererkennung mit Notbremssystem?
Tatsächlich passiert etwa jeder vierte tödliche Fußgängerunfall bei sogenannten „sonstigen Unfällen“, häufig mit sehr geringem Tempo, beim Rangieren und Einparken von Autos, Lastwagen oder Bussen. Wir als Unfallforschung sind sehr dafür, dass deren Systeme nicht nur warnen, sondern auch aktiv eingreifen. Wir wünschen uns, dass Abbiegeassistenten in Lastwagen und Rückfahrassistenten in allen Autos eine Bremsung veranlassen, wenn sie einen Fußgänger erkennen. Die Sekunde, die von der Warnung bis zur Reaktion des Fahrers vergeht, kann die entscheidende sein.