Ausgerechnet Birmingham. Die zweitgrößte Metropole Englands, mitten im Zentrum des Landes gelegen, kommt nicht aus den Negativ-Schlagzeilen. Meterhoch türmen sich die Müllsäcke in den engen Straßen der innerstädtischen Bezirke und mit dem sonnigen Wetter der vergangenen Wochen kam der Gestank verfaulender Lebensmittel-Abfälle.

Die Tagesspiegel-App Aktuelle Nachrichten, Hintergründe und Analysen direkt auf Ihr Smartphone. Dazu die digitale Zeitung. Hier gratis herunterladen.

Vor allem kamen aber auch die Ratten: Exemplare „so groß wie Katzen“, wollen aufgeregte Anwohner gesichtet haben. Im unbegrenzten Streik der Müllmänner ist auch über Ostern keine Lösung in Sicht.

Gewerkschaft lehnt Angebot als „unzureichend“ ab

Diese Woche wies die Gewerkschaft Unite ein neues Gehaltsangebot der Stadtverwaltung als „völlig unzureichend“ zurück. Bei der Beseitigung des Mülls sollen jetzt Logistik-Experten der Armee helfen.

Sebastian Borger war Polizeireporter der Münchner Abendzeitung, ehe er als freier Korrespondent nach London ging.

Die Stadt ist nur ein extremes Beispiel einer langanhaltenden Misere kommunaler Verwaltung auf der Insel. In dem hochzentralisierten Land zieht es ehrgeizige und talentierte junge Leute nach London. Wer in der Politik reüssieren will, muss ins Unterhaus.

Dabei war Birmingham im 19. Jahrhundert so etwas wie die Muster-Kommune des Königreichs.

Die Mitglieder der Gewerkschaft Unite haben ein Angebot zur Beendigung des seit langem andauernden Streiks der Müllmänner und -frauen abgelehnt.

© dpa/Jacob King

Unter dem Bürgermeister Joseph Chamberlain (1836–1914) kam die Gas- und Wasserversorgung in städtischen Besitz, Kulturinstitutionen florierten, die schlimmsten Slums wurden beseitigt. „Die am besten verwaltete Stadt der Welt“, schwärmte damals ein Besucher aus Amerika.

Heute gehört die größte Kommune Großbritanniens – London und Manchesters Lokalverwaltung ist stärker zersplittert – zu den ärmsten zehn Prozent des Landes. Das liegt am Exodus der wohlhabenderen Mittelschicht in die Vorstädte ebenso wie an der älter werdenden Bevölkerung, deren Pflegebedürfnisse aus kommunalen Haushalten gedeckt werden müssen.

Birmingham leidet am Strukturproblem

Zugleich hat die Zentralregierung in den vergangenen 15 Jahren stetig die Bezuschussung der Gemeinden reduziert.

Stuart Hoddinott ist leitender Forscher am Londoner Institut für Regierungsstudien und arbeitet dort zu öffentlichen Dienstleistungen.

Die einzige kommunale Einnahmequelle leidet an einem Strukturproblem: Die Gemeindesteuer orientiert sich am Wert von Immobilien, und dieser ist seit 1991 nicht aktualisiert worden.

„Weniger wohlhabende Kommunen sind also von vornherein benachteiligt. Und wenn Sie die Steuer erhöhen, nehmen ohnehin reiche Kommunen wie der Londoner Bezirk Knightsbridge anteilig mehr Geld ein als arme Städte wie Birmingham“, sagtStuart Hoddinott vom Londoner Institut für Regierungsstudien (IfG)

Ratten „so groß wie Katzen“ sollen ihr Unwesen in der Stadt treiben.

© dpa/Jacob King

Birminghams Labour-dominierte Stadtregierung hat zu Monatsbeginn die Gemeindesteuer um saftige 7,5 Prozent erhöht, steht aber unter brutalem Sparzwang. Denn vor zwei Jahren musste die Kommune Bankrott anmelden, steht seither unter der Aufsicht von Kommissaren, die aus London geschickt wurden.

Zwei Gewerkschaften einigten sich mit der Stadt

Eine Einsparungsmöglichkeit entdeckten die Fachleute bei der Müllabfuhr: Deren Recycling-Quote liegt so niedrig wie nirgendwo sonst im Land außer in Liverpool, zudem gibt es eine Anzahl sogenannter Sicherheitsbeauftragten, die in vielen anderen Kommunen unbekannt sind. Statt wie in London drei gehören in Birmingham meist vier Männer zur Besatzung eines Müllautos.

Während sich zwei andere Gewerkschaften, Unison und GMB, mit der Stadt auf neue Arbeitsverträge einigten, rief Unite seine rund 650 Mitglieder in den unbegrenzten Ausstand.

22.000

Tonnen Müll lagerten zu Wochenbeginn auf Birminghams Straßen.

Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass Unite-Chefin Sharon Graham unter hohem Druck einer radikal linken Gruppierung steht und im kommenden Jahr um ihre Wiederwahl bangen muss. Da macht sich Härte im Arbeitskampf gegen eine ungeliebte Labour-Regierung allemal gut

Ein Nein der Gewerkschaft: Das Angebot der Stadtverwaltung sieht nach wie vor Lohnkürzungen vor.

© dpa/Jacob King

Zumal der Organisation ein Finanzskandal anhängt. Die Kosten für den Bau eines auf 21 Millionen Pfund taxierten Konferenz- und Hotelzentrums – ausgerechnet in Birmingham – betrugen auf bisher ungeklärte Weise am Ende mehr als das Fünffache.

In diesem Jahr werde ich viel zu tun haben.

William Timms, Kammerjäger in Birmingham

Der Streik geht unterdessen mit unverminderter Härte weiter. Zu Wochenbeginn lagerten 22.000 Tonnen Müll auf den Straßen, jeden Tag kommen rund 900 Tonnen hinzu. Die Stadtverwaltung hat jetzt Privatunternehmen angeheuert, um die stinkenden Berge abzutragen.

900

Tonnen Müll kommen täglich neu hinzu.

Kammerjäger haben Hochkonjunktur. Er habe seit Wochen kaum noch freie Tage, berichtete William Timms der Tageszeitung „The Times“. Mit Gift und Fallen stellt er den Ratten nach, notfalls muss auch mal sein Luftgewehr zum Einsatz kommen.

Sein bisher größtes getötetes Exemplar maß einschließlich Schwanz stolze 56 Zentimeter. Normalerweise kommen erwachsene Nager kaum über 36 Zentimeter hinaus.

Die Zentralregierung könnte den Kommunen mehr Freiheit bei der Finanzierung ihres Haushalts einräumen.

Stuart Hoddinott, Londoner Institut für Regierungsstudien

Selbst wenn sich die Streitparteien bald einigen, sieht Timms sein Geschäft auf Monate hinaus gesichert. Sei der Müll erst einmal beseitigt, würden die Nager in Häusern Schutz suchen. „In diesem Jahr werde ich viel zu tun haben.“

Mehr über Großbritannien bei Tagesspiegel Plus: Französisch-britische Einheiten in der Ukraine Was die „Koalition der Willigen“ in Paris besprochen hat Starmer, Macron – und Meloni Kann dieses Trio Europas Sicherheit retten? Nigel Farage in Großbritannien im Umfragehoch „Die etablierten Parteien haben vor der extremen Rechten kapituliert“

Wie es mit Birmingham wieder aufwärtsgehen könnte? Thinktanker Hoddinott würde den Kommunen weitere Einnahmequellen eröffnen: „Die Zentralregierung könnte den Kommunen mehr Freiheit bei der Finanzierung ihres Haushalts einräumen.“ So fordert die Stadtspitze von Manchester seit langem von London, die Erlaubnis für eine Tourismus-Abgabe zu erteilen.

Ob aber Besucher überhaupt kommen? Der langjährige Stadtchef John Cotton bleibt zuversichtlich und mahnt die Londoner Medien zu mehr Differenzierung: „Birmingham immer nur herunterzumachen, ist wirklich nicht fair.“