Pfarrerin Vinh An Vu mit ihren Mitfahrerinnen und Mitfahrern vor der Bernhardskirche in Rohracker. Foto: Jürgen Brand
Der zweite Stuttgarter Vespa-Gottesdienst hat am Sonntag die Rollerfahrer über Stadtteilgrenzen und Jahrhunderte geführt – und viele neue Perspektiven eröffnet.
Vinh An Vu fährt seit 2017 Motorroller. Damals war sie in der Ausbildung in Norddeutschland, im Alten Land südwestlich von Hamburg. Seitdem ist sie Berufungspendlerin. Vor allem aber ist Vinh An Vu Pfarrerin. Im Norden pendelte sie mit dem Roller zu ihrer Gemeinde, heute pendelt sie zwischen den Kirchen in Hedelfingen, Rohracker und Frauenkopf, meist alleine. Wenigstens einmal im Jahr will sie aber den Community-Effekt des Rollerfahrens erleben – und lädt zum Vespa-Gottesdienst ein. Für diesen kommen Rollerfahrerinnen und -fahrer auch mal von etwas weiter weg – wie auch am Sonntag.
„Ich hatte die Idee schon länger im Kopf”, sagt Vinh An Vu, die im Talar auf ihrem Elektro-Roller vorneweg fährt. 2024 verwirklichte sie ihren kleinen Traum zum ersten Mal. Startpunkt für die zweite Auflage ist die Grabkapelle. Auf den Stufen unterhalb des Denkmals begrüßt sie die Gruppe. 15 Roller-Fans sind gekommen, aus Stuttgart, Esslingen, Reutlingen, Owen, Schwäbisch Gmünd. Viele fahren tatsächlich Vespa, manche schon etwas betagter und knatternd, andere größer und komfortabler.
Pfarrerin Vinh An Vu Foto: Jürgen Brand
Von Rotenberg geht es durch die Weinberge hinunter nach Uhlbach, von dort über den Neckar hinüber nach Hedelfingen. Die erste Etappe ist auch der erste Jahrhundertsprung der Tour. Die Grabkapelle wurde von 1820 bis 1824 errichtet, die Kreuzkirche gut 100 Jahre später. Sie ist längst nicht so bekannt wie die Königsruhestätte auf dem Württemberg, aber eines der bedeutendsten Kirchengebäude des sogenannten Neuen Bauens in ganz Süddeutschland.
Während die Roller und ihre Bremsen nach der teils steilen Abfahrt direkt vor der Kirche abkühlen, empfangen drinnen Orgelklänge die Tour-Teilnehmer. Zwischen gemeinsam gesprochenen Psalm-Versen improvisiert die Kirchenmusikdirektorin Manuela Nägele, zum Abschluss lässt sie die Peer Gynt-Suiten anklingen. Zwischendurch ist Gelegenheit, Lieblingsrouten auszutauschen. Maren Gülck aus Esslingen etwa zieht es am liebsten hinauf auf den Schurwald, die kurvige Strecke zwischen Baltmannsweiler und Baach hat es ihr angetan.
Auch eine Taufe bietet die Vespa-Runde
Von Hedelfingen aus geht es mehr als ein halbes Jahrtausend zurück. Baubeginn für die Bernhardskirche in Rohracker war schon 1447, sie ist heute das ältestes Gebäude des Stadtteils. Der Weg dorthin ist typisch für Stuttgart in diesen Sommerwochen: von Baustellen und Umleitungen geprägt. Weil sich in dem alten Kirchengebäude Schimmel festgesetzt hat, kann Vinh An Vu dort schon seit rund einem Jahr keine Gottesdienste mehr halten. Aber dafür gibt es den idyllischen Kirchgarten, wo die Vespa-Fahrer sogar eine Taufe miterleben. Carlotta aus Rohracker geht schon in die Schule, ist also alt genug, um selbst zu entscheiden, ob sie am Religionsunterricht teilnehmen will oder nicht, ob sie getauft werden will. Im Kreis der Familie mit ihrer großen Schwester als Taufpatin und mit den Rollerfahrern als Gäste hat sie diesen Schritt an diesem Sonntag im Kirchgarten der Bernhardskirche gemacht.
Auch Nicht-Kirchenmitgliedern finden das toll
Die letzte Etappe des Vespa-Gottesdienstes in vier Stationen führt hinauf auf den Frauenkopf. Die dortige Kirche ist mit Baujahr 1955 das jüngste und kleinste Gotteshaus der Tour. Vinh An Vus Roller findet den Weg praktisch von alleine – so oft ist die Pfarrerin die Strecke schon gefahren. „Da es keine öffentliche Verkehrsanbindung gibt, fahre ich Roller, um nicht verschwitzt und verspätet anzukommen.” Bei der kleinen Stärkung nach dem Abschlusssegen kommen die Roller-Fans im Garten der Frauenkopfkirche ins Gespräch. Dieter Bounin aus Owen fährt schon seit 1989 Roller. Er ist inzwischen mit einer 300er Vespa unterwegs – und gerade mit ihr bei einer Vogesentour „in die Rente gefahren”.
Die Esslingerin Maren Gülck war zwei Jahrzehnte mit einer ganz klassischen 50er Vespa unterwegs, hat sich aber vor einem Jahr auf eine 125er vergrößert und war zuletzt damit am Bodensee unterwegs. Eine Freundin hatte sie auf den Vespa-Gottesdienst aufmerksam gemacht. Sie selbst sei zwar nicht in der Kirche, „aber das sollte mich ja nicht hindern“, sagt sie lachend. Sie genießt diese Form der Gemeinschaft sichtlich: „Dass sich die Kirche so in diese Richtung öffnet – ich find das toll!“