Frankreichs Regierungskrise –

Chaostage in Paris: Muss Macron jetzt mit der Linken regieren?

Publiziert heute um 05:47 UhrDer französische Premierminister Francois Bayrou und Präsident Emmanuel Macron bei einer Rede an Armeeführer am 13. Juli 2025 in Paris.

Ein Duo im freien Fall: Premier François Bayrou (rechts) hat nach der jüngsten Umfrage noch einen Beliebtheitswert von 14 Prozent, bei Präsident Emmanuel Macron sind es 15 Prozent.

Foto: Ludovic Marin (AFP)

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D-Day in Frankreich, schon wieder. Nach nur acht Monaten im Amt stellt Premier François Bayrou an diesem 8. September im Parlament auf eigenen Wunsch die Vertrauensfrage, im Wissen, dass er sie höchstwahrscheinlich verlieren wird – und diese Wahrscheinlichkeitsformel ist allein der Chronistenvorsicht geschuldet. Der Entscheid hat alle überrascht, selbst seine Minister.

Warum schickt sich Bayrou selbst ins politische Verderben?

Weil er wohl verstanden hat, dass er mit seinem Sparbudget für 2026 ohnehin nicht durchkommen würde. Es sähe Einsparungen in der Höhe von 44 Milliarden Euro und die Streichung von zwei Feiertagen vor. Frankreich hat über die Jahre hinweg eine Schuldenlast von 3400 Milliarden Euro angehäuft, das ist ein historischer Rekordwert. Bayrou hält die Kurskorrektur für unablässig, schaffte es aber nicht, die Franzosen und die Oppositionen von deren Dringlichkeit zu überzeugen. Der Zentrist will auf der Bühne sterben, metaphorisch natürlich. Sein Amtsvorgänger, der Republikaner Michel Barnier, stürzte im vergangenen November ebenfalls über das Budget, nachdem er sich davor vor der extremen Rechten verbogen hatte. Bayrou will das nicht, er will stolz gehen, als ungehörter Herold der Vernunft. Dass er dafür dem Land eine weitere Regierungskrise zumutet, nehmen ihm viele Franzosen übel. Doch seine Unpopularität ist ohnehin beispiellos: Nur 14 Prozent vertrauen ihm.

Hat er vielleicht nicht doch eine Chance, diese Abstimmung zu gewinnen?

Nein, ausser die gemässigte Linke und die extreme Rechte verleugnen sich selbst total. Mindestens die Stimmen eines dieser Lager bräuchte Bayrou für eine Mehrheit.

Was passiert nach Bayrous Sturz?

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat dann zwei, theoretisch drei Optionen – mit absteigender Wahrscheinlichkeit. Er kann erstens einen neuen Premier nominieren, sofort oder eher nach der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York, wo er für eine noch breitere Anerkennung eines palästinensischen Staats mobilisieren will. Zweitens könnte er erneut das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen, wie er das im Sommer 2024 schon einmal getan hatte. Drittens könnte er selbst zurücktreten, anderthalb Jahre vor dem Ende seiner Amtszeit, und so den Weg für eine vorgezogene Präsidentenwahl frei machen. Macron schloss Optionen zwei und drei aus; er sprach in dem Zusammenhang von «Politfiktion».

Der Erste Sekretär der französischen Sozialistischen Partei, Olivier Faure, spricht zur Presse nach einem Treffen mit dem französischen Premierminister vor einer Vertrauensabstimmung im Hotel de Matignon, Paris.

Nun schauen alle auf ihn: Olivier Faure, Chef des Parti Socialiste. Seine Sozialisten gelten als mögliche Retter der Legislaturperiode – und Faure als möglicher neuer Premier.

Foto: AFP

Wer hat Aussichten auf das Amt des Premierministers?

Herumgereicht werden die Namen der üblichen Verdächtigen aus Macrons zentristischem bis bürgerlichem Lager: unter anderem Justizminister Gérald Darmanin und Verteidigungsminister Sébastien Lecornu, enge Vertraute des Präsidenten. Aber warum sollen die schaffen, was Bayrou nicht schaffte? Offenbar prüft Macron, ob er nun nicht doch einen Sozialdemokraten nominieren soll, was er bisher ablehnte aus Sorge, dass ein Linker seine Reformbilanz abwickeln könnte. Als mögliche Kandidaten gelten Olivier Faure, Chef des Parti Socialiste, und Bernard Cazeneuve, der ehemalige Premierminister. Cazeneuve hat die Partei unterdessen verlassen, was ihm manche Genossen nachtragen.

Warum sollten die Sozialisten Macron helfen?

Um sich selbst zu helfen. Die Sozialisten wollen sich von Jean-Luc Mélenchon emanzipieren, dem Chef der France Insoumise, der in den vergangenen Jahren das linke Lager beherrscht hatte und in dieser Zeit immer radikaler wurde. Mélenchon will auf keinen Fall mitregieren. Er hat sich der Bürgerbewegung «Bloquons tout» angeschlossen, die am 10. September das Land blockieren will. Mit einer Handreichung in der Not würden sich die Sozialisten als glaubwürdige Regierungskraft empfehlen wollen – mit Blick auf die Präsidentenwahl 2027.

Riskiert die Linke so nicht, in den Negativsog von Macrons Fin de Règne zu geraten?

Die Sozialisten und ihre Alliierten, die Grünen und die Kommunisten, machen nur mit, wenn Macrons Lager mindestens einige ihrer Forderungen aufnimmt. Vor einer Woche haben sie einen alternativen, linken Budgetplan vorgestellt – mit einem Sparpotenzial von 21,7 Milliarden Euro. Das ist die Hälfte dessen, was Bayrou einsparen wollte. Auch wollen die Linken das Staatsdefizit langsamer verringern als Bayrou: Der hatte verheissen, es bis 2029 auf 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu drücken; die Sozialisten schieben dieses Ziel nach hinten – auf 2032.

Was steht im Vorschlag der Sozialisten?

Ihre Parademassnahme wäre die Einführung der «Taxe Zucman», benannt nach dem Ökonomen Gabriel Zucman: eine Vermögenssteuer von 2 Prozent für die «Ultrareichen». Gemeint sind die rund 1800 Supervermögenden im Land mit einem Kapital von je mehr als 100 Millionen Euro. Mit dieser Steuer, so glauben die Sozialisten, könnte der Staat zwischen 15 und 25 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich einnehmen. Kritiker halten den Betrag für überzogen und warnen, die Reichen könnten das Land verlassen. Zudem pochen die Sozialisten auf eine Korrektur von Macrons Rentenreform: Das Rentenalter soll wieder sinken. Für den Präsidenten wären beide Massnahmen eine Schmach, er ist zuletzt stark nach rechts gerutscht, und die Kohabitation mit der Linken wäre eine mittlere Demütigung. Doch hat er eine Wahl? Gut möglich, dass die bürgerlichen Republikaner in einem solchen Szenario sein Regierungsbündnis verlassen.

Jordan Bardella und Marine Le Pen bei einer Pressekonferenz vor einer politischen Beratung mit dem französischen Premierminister in Paris.

Nutzniesser des Chaos? Marine Le Pen und Jordan Bardella, die Köpfe des rechtsextremen Rassemblement National.

Foto: AFP

Und welche Rolle spielt Marine Le Pen in dieser Phase?

Theoretisch könnte auch ihr Rassemblement National mit den Macronisten regieren – oder zumindest einen Nichtangriffspakt mit ihnen schliessen. Doch wahrscheinlich ist das nicht: Le Pen fordert eine Auflösung des Parlaments und baldige Neuwahlen. Regiert die moderate Linke mit den Macronisten, wäre interessant, zu sehen, wie die Lepenisten sich zu einer Reform der Rentenreform oder zur Einführung einer Reichensteuer verhalten würden: Beides wäre auch bei ihren Wählern sehr populär; die Linke könnte punkten.

Dennoch: Profitiert nicht Le Pen am allermeisten von der Krise?

Chaos nützt ihr, klar. Und sie wird jede Gelegenheit nutzen, um es von aussen zu schüren. Ihre Umfragewerte sind ungebrochen hoch, sie könnten weiter steigen. Für Le Pen ist der 8. September aber aus einem weiteren Grund zentral, einem persönlichen: Sie soll an diesem Montag erfahren, wann der Berufungsprozess beginnt, der über ihre Teilnahme bei den kommenden Wahlen entscheiden wird. Zur Erinnerung: Wegen Veruntreuung europäischer Steuergelder ist Le Pen neulich in erster Instanz und mit sofortiger Wirkung für fünf Jahre das passive Wahlrecht entzogen worden. Schafft sie es nicht, dieses Urteil rechtzeitig zu kippen, wäre sie für 2027 disqualifiziert. Timing ist alles. Schafft sie es nicht, soll ihr Ziehsohn antreten, der 29-jährige Jordan Bardella. Plan B nennen sie es bei den Lepenisten. Doch ob der im Stresstest einer Präsidentschaftskampagne funktionieren würde, steht in den Sternen.

Frankreich in der Krise

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