»Wahre Freude ist eine ernste Sache«: Das Leitbild des Gewandhauses, sonst im Sinne einer bürgerlichen Musikästhetik zu verstehen, ist zum Demokratiewochenende ganz anders präsent. So sind die zarten Glockenschläge, die den Auftakt zur 245. Spielzeit einläuten, eine »wahre Freude«. Dazu hauchen die Streicher eine nebelgleiche, kühle, verwunschene Melodie. Mit Arvo Pärts »Cantus in memoriam Benjamin Britten« (1977) hallt der charakteristische »Tintinnabuli«-Kompositionsstil nach, für den er sich vom Glöckchen-Klang inspirieren lässt. Die reduzierte, in sich ruhenden und beinahe geistliche Musik des Estländers und nun Gewandhauskomponisten schwebt über der gesamten Spielzeit. Doch nicht nur den Klängen zu lauschen, sondern auch miteinander ins Gespräch zu kommen, wünscht sich der Gewandhausdirektor Andreas Schulz für die kommenden Tage.
Metaphern und Musik
»Sie [Demokratie] lebt davon, dass wir uns einbringen – jede und jeder Einzelne«, sagt weitaus nachdrücklicher Maja Göpel in ihrer anschließenden Rede. Die Expertin für politische Ökonomie, Nachhaltigkeitstransformation und Wissenschaftskommunikation appelliert, den Grundton der Demokratie, das Vertrauen, zum Klingen zu bringen. Dass das nicht nur auf die Akteurinnen und Akteure im fast bis auf den letzten Platz gefüllten Konzertsaal zutrifft, sondern gleichwohl auf Bürgerinnen und Bürger und Politikerinnern und Politiker, liegt auf der Hand. Klangvoll führt sie so das diesjährige Motto des Demokratiewochenendes »Den richtigen Ton treffen« aus: Es geht darum, einander zuzuhören, Stimmen nicht zum Verschwinden zu bringen und ein gelingendes Zusammenspiel zu ermöglichen, in dem wir uns für eine Melodie des Miteinanders einsetzen, füreinander einstehen und aufstehen.
Dem ausschweifenden Applaus schließt sich das Zucken von Andris Nelsons an, der mit seinem Dirigat Antonín Dvořáks Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 53 (1879) anstimmt. Das feierlich tänzerische Stück bewegt, auch Isabelle Faust am Soloinstrument, die sich den ziselierten Melodien wunderbar hingibt. Für das Finale von Jean Sibelius 2. Sinfonie D-Dur op. 43 (1903) pulsieren die Kontrabässe, beleben so die Streicherschwärme. Dazu glänzen die Bläser und lassen den Abend festlich ausklingen. Nach stehenden Ovationen und Bravo-Rufen, ist das Publikum auf Sekt und Laugengebäck im Foyer eingeladen – nicht die einzige, aber eine schätzenswert unbeschwerte Gelegenheit, um dem Wunsch nach Austausch nachzukommen.
»Eine ernste Sache«
Den Herausforderungen der Demokratie nimmt sich das Gewandhaus gemeinsam mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung am Folgetag an. Während der Podiumsdiskussion geben allen voran zwei Impulse zum Nachdenken: der in Leipzig lebende Kabarettist Mathias Tretter, der seine Kunst mehr über die Form als über Inhalte definiert und Kristian Wegscheider, der nicht nur die kleine, transportable Saalorgel des Gewandhauses baute, sondern auch während der DDR mit seinem avantgardistischen Happening neue und freie Räume eroberte. Hoffnungsvoll stimmt Wegscheiders Eindruck, der sich gleichwohl mit seinen Orgelklängen wünscht, dass wir der Vielfalt richtiger Töne lauschen und uns so für Pluralismus und für ein demokratisches Miteinander einsetzen.
»AfD allesamt weg«, rappt der Kölner Conny mit starker Präsenz und Nachdruck in seinem Song »Warum es nicht so bleiben kann wie es war«. Er ist einer von den Musikerinnen und Musikern, die gemeinsam mit drei Instrumentalisten des Gewandhausorchesters im kooperativen Rap-Battle antreten. Dass es zum Sonntagnachmittag im mehr als halbgefüllten Mendelssohnsaal nicht darum geht, die Streetcredibility unter Beweis zu stellen, stört kaum. Trotz des eher hölzernen Rahmens der Veranstaltung, die sich um junges Publikum bemühen soll, nutzen die Rapperinnen und Rapper unbeirrt die Chance, um gehört zu werden und sprechen sich unter anderem für Feminismus, Aktivismus und gegen Fremdenfeindlichkeit und die gleichgültige Klimapolitik aus. Alles »eine ernste Sache«, die nun unter dem Gewandhaus-Leitbild wie kaum zuvor Werte schafft und Teilhabe ermöglicht. Mögen sie wie auch die Diversität, nicht nur im Wochenendprogramm, sondern auch in der Vielzahl an Metaphern, die Brücken zwischen Musik und Demokratie bauen, in der anstehenden Spielzeit auf der Agenda des Gewandhauses bleiben.