Wer sich heute vor ein Bild stellt, in Komposition, Farben und Ausstrahlung vertieft, und darüber die Welt um sich herum für eine Weile vergisst, ist nach Lesart jüngerer Malereitheorien in die „modernistische Falle“ getappt. Denn er oder sie ignoriert dann die Begleitumstände, unter denen das Gemälde zustande gekommen ist, übersieht die soziokulturellen und ökonomischen Kontexte, die „Formation“, innerhalb derer das Bild erst an die Wand eines Museums, einer Galerie, einer privaten Kunstsammlung gelangen konnte. Eine Qualität von Malerei kann aber auch gerade darin bestehen, all die Diskurse um sie herum, jedenfalls für einen Moment lang, vergessen zu machen. Das gelang Dana Schutz schon in ihren frühesten Werken, als die Malerin noch studierte.

„Malerei stand damals überhaupt nicht hoch im Kurs“, der Fokus lag auf ganz anderen Dingen, erzählt sie bei einem Besuch in ihrem Atelier nahe dem Sunset Industrial Park im New Yorker Stadtbezirk Brooklyn, Anfang der Nullerjahre war wieder einmal der Tod der Gattung angesagt, Anklang fanden eher konzeptuelle Ansätze. Oder eine streng geometrische Malerei.

Sie brachte provokante Dinge auf die Leinwand

Noch als Absolventin des Cleveland Institute of Art, Ohio brachte Schutz allerlei provokative Dinge auf die Leinwand, Obskures, das ihrer Phantasie entsprang. So im Jahr 2000 ein Mädchen mit einer gequälten Miene, gekleidet in ein T-Shirt mit einem Aufdruck, das sich garantiert nicht verkaufen lassen würde: das Wort „Daughter“ unter der Abbildung der gespreizten Schenkel und der entblößten Scham aus dem Skandalbild „L’Origine du monde“ von Gustave Courbet von 1866. Sie habe damit auf den Trend damals reagiert, dass alle Eltern ihren Kindern irgendetwas Possierliches aufs Shirt gedruckt hätten.

Verstörend wirken Schutz’ „Face-Eater“ mit karikaturhaften Gesichtern, die sich selbst aufessen. Der New Yorker Kritiker Barry Schwabsky erkannte darin eine Metapher künstlerischer Autonomie, die sich an sich selbst nährt. Schutz’ Erklärung ist einfach und ganz die einer Malerin: Sie male, was sie sehen wolle. In diesem Bild habe sie sich buchstäblich ausmalen wollen, wie das wohl ginge und wie es dann aussehe: sein eigenes Gesicht zu essen. Eine schreckliche Vorstellung.

Dabei habe sie an Georg Baselitz’ „Die große Nacht im Eimer“ von 1963 gedacht, das Bild aus dem Kölner Museum Ludwig mit dem gruseligen Männchen und seinem monströsen Phallus, sowie an die „dunklen Räume eines Rembrandt und Goya“. Aber auch die düstere Gegenwart während des amerikanischen Irakkriegs, vom Zaun gebrochen von der Regierung unter George W. Bush, hätten diese Werke wohl beeinflusst.

Bilder niesender Mädchen

Dann waren da ihre Bilder von Mädchen, die auf das Heftigste niesen und dabei wenig vorteilhaft aussehen. Die Heranwachsenden in diesen Werken, an denen Schutz schon früh ihre ganze Lust an Malerei ausließ, waren eingebildet, ausgedacht, vorgeführt in einem allzu menschlichen Moment des Kontrollverlusts. Nicht weiter tragisch, sondern vollkommen alltäglich. Der grüngelbliche Schnodder, der da einer klobigen, geradezu explodierenden Nase in dem Bild „Sneeze“ entweicht, ist abstrakt-expressionistische Geste pur, malerisch gekonnt hingerotzt wie auch die etwas schmierigen Haarsträhnen.

Das Mädchen niest Farbe. Wird darüber zum Plädoyer für Peinture. Der rote Pulli und der blaue Hintergrund komplettieren die Palette der Komplementärfarben. Gibt es für diese Werkgruppe ein Vorbild? Es wäre uns nicht bekannt. Sie liebe jedenfalls Picassos weinende Frauen, bemerkt Schutz. Es mag auch die ihr eigene Bravour gewesen sein, die den Aufruhr um ihr Bild „Open Casket“ vor einigen Jahren befeuerte. Schutz hatte das schwarze Lynchopfer Emmett Till im Sarg mit seinem entstellten Gesicht gemalt, nachdem der vierzehnjährige Junge 1955 in Mississippi von weißen Männern grausam ermordet worden war.

Ein Gemälde, das in der Ausstellung der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts 2016 kein größeres Aufsehen erregt hatte, 2017 bei der New Yorker Whitney-Biennale dann aber auf beispiellose Weise skandalisiert wurde und ungewollt zum Epochenwerk avancierte. Wer darf was in wessen Namen malen? Die Frage wurde hier so unnachgiebig geführt wie an keiner anderen zeitgenössischen Arbeit. Im Gespräch mit einer Gruppe Studierender aus Deutschland in ihrem Studio entzieht sich Schutz dem Thema nicht, verständlich aber, dass sie der Debatte keine neue Nahrung geben möchte, schon gar nicht mit Äußerungen, die zur Schlagzeile taugen könnten. Keine Schuldzuweisung, auch kein Eingeständnis: Sie sehe die Kontexte heute klarer und sei damals heilfroh gewesen, sich im Orkan der Debatte ins Studio zurückziehen zu können, um weiter zu malen.

Kataloge liegen in Haufen herum

Dort sieht es aus wie in einem Malerinnenparadies. Breite Regale auf Rollen sind mit ausgequetschten Farbtuben übersät, Kataloge liegen in Haufen herum: Joan Mitchell, Martin Kippenberger und Lee Krasner, Pablo Picasso, Paula Modersohn-Becker, der Ausstellungskatalog „Berlin Art 1961–1987“ aus dem Museum of Modern Art. Rollbar ist auch der Spiegel, der in Ateliers bisweilen eingesetzt wird.

In der seitenverkehrten Ansicht lassen sich Leerstellen, Schwächen, offene Fragen der Komposition leichter erkennen (der britische Maler David Hockney hat ausführlich darüber geschrieben). Mit Kohle zeichnet Schutz ihre Figuren in groben Umrissen auf das Packpapier der angelieferten Leinwände, wobei die riesigen Kompositionsskizzen kaum erahnen lassen, was daraus mal entstehen soll. Große Bilder stehen auf Farbeimern an hohen Wänden zur Begutachtung bereit, die im kommenden Oktober in einer Londoner Galerie ausgestellt werden sollen.

Sie bestätigen den Hang zu Metapher und Allegorie, der nicht neu ist im Œuvre von Schutz. Wenn da, vor der Kulisse einstürzender Hochbauten im Hintergrund, eine Menge von Menschen in einem Tohuwabohu ineinander verkeilt ist, kann man das als Kommentar zur amerikanischen Gesellschaft verstehen. So wie Schutz deren Antagonismen schon vor zwanzig Jahren ins Bild gesetzt hat, wenn sie die unterschiedlichsten „Fanatiker“ aufeinandertreffen ließ – ein Gemälde, das in ihrer fulminanten Ausstellung im Musée d’Art Moderne de Paris im vorigen Jahr als Vorahnung des Sturms auf das Kapitol in Washington, D.C. vom 6. Januar 2021 gedeutet worden ist.

Dann vergeht sich ein riesiger Hummer an einer Frau am Strand. Eine Tischgesellschaft, für die ein Bild von George Grosz aus der Neuen Sachlichkeit als Vorbild gedient haben könnte, nimmt Schutz zum Anlass für ein delikates Stillleben mit Trauben und Fleisch. Selten lässt sie in anderen Werken die Gelegenheit aus, ihre Bewunderung für die einfache Monumentalität eines Philip Guston zum Ausdruck zu bringen. Zugleich pocht Schutz auf die Subjektivität ihrer Wahrnehmung und ein eigentümliches Storytelling in der eigenen Bildwelt.

Modernistische Falle hin oder her: All diese Bilder sind in ihren zupackenden Pinselzügen ingeniöse Statements über die Optionen und Qualitäten von Malerei: mit saftigem Farbauftrag, satten Kontraste und häufig kraftvollem Rot, mit raumbildendem Chiaroscuro. Schutz’ Malerei ist klassischer, altmeisterlicher, noch üppiger geworden in den letzten Jahren. Sie lebe in der Farbe, stellt sie als Credo fest: „I am a painter that’s in the paint.“