Eine Politisierung des Verfassungsgerichts wie in den USA hält Peter Müller in Deutschland für unwahrscheinlich. Der ehemalige Ministerpräsident und Verfassungsrichter erklärt mit dem Wissen des Praktikers, wie das Gericht tickt und intern funktioniert.

Herr Müller, früher wurden Verfassungsrichter eher hinter verschlossenen Türen nominiert, bei Frau Brosius-Gersdorf gab es eine heftige öffentliche Diskussion. Welcher Weg ist besser?

Wenn die Richter mittlerweile durch das Plenum des Bundestages gewählt werden, stärkt das die demokratische Legitimation. Das ist ein Vorteil. Gleichzeitig ist festzustellen, dass bei der Wahl durch das Plenum zunehmend nicht nach juristischen, sondern nach politischen Kriterien entschieden wird. Das ist bedauerlich.

Was unterscheidet die letzte Diskussion von denen in den Jahren zuvor?

Auch bei meiner Wahl wurde kontrovers diskutiert, damals unter dem Gesichtspunkt: „Ist der Kandidat Peter Müller trotz seiner politischen Vergangenheit als Verfassungsrichter wählbar?“ Das Ergebnis lautete: Ja. Neu ist, dass Kandidaten – ohne vergleichbares Vorleben in der Politik – einzelne politische Positionen zum Vorwurf gemacht werden. Bei Frau Brosius-Gersdorf unter anderem ihre Auffassung zum Schwangerschaftsabbruch, oder im Januar bei Robert Seegmüller seine Auffassung zu Zurückweisungen illegaler Zuwanderer an der Grenze. Das ist ein Irrweg, denn darauf kommt es bei der Wahl zum Verfassungsrichter nicht an.

Bald wird es einen neuen Anlauf mit einem neuen Personalvorschlag geben. Was kann man besser machen?

Die Auseinandersetzung um Frau Brosius-Gersdorf war ein Fall, der sich so nicht wiederholen darf. Man kann nicht im Wahlausschuss zustimmen, um dann im Plenum zu sagen, es gibt keine Mehrheit. Das ist unprofessionell. Hier hat die Führung der Unionsfraktion versagt. Unabhängig davon müssen sich alle Fraktionen daran erinnern, dass das Gericht besonders stark ist, wenn Positionen aus dem gesamten demokratischen Spektrum in die Arbeit einfließen, nicht nur die Ansichten, die man selber teilt.

Richter Peter Müller im Jahr 2012 Foto: dpa

Kann man die öffentliche Diskussion wieder zurückdrehen?

Man muss da nichts zurückdrehen. Man muss nur aus den Fehlern lernen. Dass über Personen diskutiert wird, ist nichts Schlimmes. Aber bitte anhand des richtigen Maßstabs – und der ist allein die juristische Expertise.

Schwindet dadurch nicht der Nimbus des Gerichts, das Vertrauen in seine Unabhängigkeit?

Solange es bei den wenigen Fällen bleibt, habe ich diese Befürchtung nicht. Sollte sich das verstetigen, sollte künftig im Vorfeld immer über die politische Einstellung von Kandidaten diskutiert werden, dann wäre das eine Katastrophe. Das würde dem Gericht substanziell schaden.

Haben Sie den Eindruck, dass sich die Fraktionen selbst so disziplinieren, wie Sie das gerade wünschen?

. Da wollen sie Anteile gewinnen. Das ist legitim. Für diesen Markt ist aber die Frage, wer Bundesverfassungsrichter wird, eher von untergeordneter Bedeutung. Das müsste es erleichtern, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Jetzt waren diejenigen unvernünftig, die immer vorgeben, für das Verfassungsgericht eintreten und es schützen zu wollen. Lässt das hoffen?

Die Tendenz zur Politisierung der Verfassungsrichterwahl ist nicht neu. Sie ist das keineswegs zwingende Ergebnis einer Veränderung des Wahlverfahrens. Da muss man sich besinnen.

Immer mehr Parteien melden Ansprüche an, gleichzeitig soll die AfD als bald größte Oppositionspartei außen vor bleiben. Ist das richtig?

Jeder Kandidat braucht eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Wo die bei einem AfD-Kandidaten herkommen soll, sehe ich nicht. Außerdem: Das Gericht ist darauf angewiesen, dass sich alle Richter kooperativ verhalten. Wenn sich auch nur ein Richter bei Kammerentscheidungen, die einstimmig erfolgen müssen, quer stellt, kann er einen ganzen Senat blockieren. Das Gericht würde in seiner Handlungsfähigkeit massiv beeinträchtigt. Deswegen ist bei der Personalauswahl ein besonderes Maß an Sorgfalt geboten.

Müssen wir eine ähnliche Politisierung bei Richtern wie in den USA befürchten?

Nein. Diese Gefahr besteht nicht, weil wir bei der Richterwahl eine Zwei-Drittel-Mehrheit haben. Da sind immer Kompromisse notwendig. In den USA reichen knappe Mehrheiten, von denen rücksichtslos Gebrauch gemacht wird.

Gibt es diese Politisierung auch innerhalb des Bundesverfassungsgerichts?

Wenn ein Verfassungsrichter versuchen würde, eine politische Agenda umzusetzen, würde er sich völlig isolieren. In den Beratungen zählt allein das juristische Argument. Ich war zwölf Jahre Verfassungsrichter. Es gab in der gesamten Zeit nur einen einzigen Fall, in dem die Debatte zufällig entlang der vermuteten politischen Fronten verlief – und dabei ging es um eine Frage von untergeordneter politischer Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht agiert nicht parteipolitisch. Es ist nicht Gestalter der Politik, sondern Hüter der Verfassung.

Gibt es eine bessere Möglichkeit zur Richterwahl als die, die wir gerade haben?

Wir sind mit der Wahl durch den Wahlausschuss gut gefahren. Ich verstehe aber, dass man durch die Wahl im Plenum mehr Transparenz schaffen wollte. Das kann man nicht zurückdrehen. Vielleicht gibt es ein paar Detailfragen, die verbessert werden können. Ich glaube aber, dass wir mit der Lösung, die wir jetzt haben, leben müssen – und auch leben können.