Die Wohnungen von Erwachsenen gleichen immer mehr einem Kinderzimmer. Ist das Verspielte die Antwort auf eine Welt, die vielen zu ernst geworden ist?
Über das «innere Kind» wurde bereits viel gesprochen. In Therapiesitzungen, Podcasts und den sozialen Netzwerken ist es seit einiger Zeit allgegenwärtig: das verletzte, verspielte, vergessene Kind, das geheilt, umarmt und gehört werden will. Man müsse ihm Raum geben, hiess es. Jetzt bekommt es endlich ein richtiges Zuhause.
Die Wohnungen, die in aktuellen Designmagazinen und auf Instagram abgebildet sind, kommen bunt wie ein Kinderspielparadies im Einkaufszentrum daher. Sie sind mit bonbonfarbenen Teppichen, lustigen Figuren und viel Kleinkram ausgestattet. Dinge, die eigentlich kein Erwachsener braucht. Aber die Botschaft ist klar: Wohnen soll wieder Spass machen. Weniger Ernsthaftigkeit, mehr Leichtsinn, bitte!
Interior-Designer Gustaf Westman zelebriert das kindliche Wohnen.
Cobrasnake
Bestes Beispiel für den neuen Infantilismus ist Gustaf Westman. Der schwedische Interior-Designer lebt in einem kleinen Apartment in Stockholm, das mehr nach Kinderzimmer als nach Prestige-Apartment aussieht. Die Wände sind königsblau, die Spiegel blumenförmig, und im Spülbecken türmen sich die Teller. Man könnte meinen, es sei gerade ein Kindergeburtstag gefeiert worden. Die Möbelstücke sehen aus wie einem Comic entsprungen: Sie wirken etwas zu gross geraten, wie aufgeblasen – als würde man irgendwann vielleicht noch hineinwachsen in diesen massiven Stuhl. Fast alle Objekte hat der 31-Jährige selbst entworfen.
«Ich finde es wichtig, Freude in ein Zuhause zu bringen», sagt der Designer, der viel über Fun und seltener über Functions spricht. Seine Gegenstände hat er allesamt mit einem Augenzwinkern entworfen: den Schminkspiegel, der aussieht wie ein Autorückspiegel, den Becher für Milchshakes, die Platte, nur für Hotdogs bestimmt. Westman sagt: «Ich habe Mühe damit, mich selbst ernst zu nehmen», und sitzt während des Interviews so tief im Sofa, dass er beinahe darin versinkt. Er trägt eine grellgelbe Sportjacke und Hausschuhe, die er auch draussen anzieht. «Es macht mir nichts aus, wenn die Leute etwas irritiert sind», sagt er.
Gustaf Westman entwirft seine Stücke aus einer Laune heraus.
Mit dieser Haltung fällt der Schwede auf in der internationalen Designbranche, die noch immer streng dem alten Diktat «form follows function» folgt. Es stammt noch aus der Zeit der Bauhaus-Bewegung von Anfang des 20. Jahrhunderts. Gustaf Westman hingegen entwirft aus einer Laune heraus. Als er kürzlich für ein Wochenende einen Pop-up-Store in Paris eröffnete, präsentierte er eine rosafarbene Tasche, die gerade einmal Platz bietet für ein einziges Baguette-Brot. Ein Objekt, das kein Mensch braucht? Auf Social Media ist die Begeisterung dafür gross. Mehrere hunderttausend Likes auf Instagram und eine lange Warteschlange vor dem Pariser Pop-up sind der Beweis dafür.
Zwischen Meme und Memphis
Design wird heute nicht mehr nur auf Messen oder in Galerien entdeckt, sondern vermehrt auch im Internet. Gustaf Westmans humorvolle Art zu gestalten und vor allem sein Händchen dafür, wie man Aufmerksamkeit erregt, haben längst das Interesse grosser Unternehmen geweckt. Nach Mercedes-Benz geht nun auch Ikea mit dem Schweden eine Kollaboration ein. Die Produkte sind seit heute weltweit erhältlich und sorgten bereits im Vorfeld in den sozialen Netzwerken für Aufsehen. Auffälligstes Stück der zwölfteiligen Kollektion ist eine Platte – nur für Meatballs.
Westman spielt mit Klischees: ein Baguette für Paris, eine mit Piercings versehene Tasse für den Pop-up-Shop in Berlin – und natürlich: ein Meatballs-Teller für Ikea. Dafür verwendet er einfache Formen und Farben, die leicht verständlich sind. Und am liebsten übertreibt er: Teller mit einem aufgeblasenen Rand oder Weingläser, die extra klobig und unhandlich sind, sind typisch für ihn.
Man dürfe Design nicht unnötig kompliziert machen, sagt er, dafür interessiere sich auf Social Media niemand. Bei seinen Produkten gibt es keine Metaebene, keinen intellektuellen Überbau, mit dem andere Designer ihre Werke gern erklären. Bei Gustaf Westman ist eine Platte für Meatballs einfach eine Platte für Meatballs. «Das ist die ganze Botschaft dahinter.»
Eine gepiercte Tasse steht in Westmans Augen für Berlin.
PD
Der schwedische Gestalter greift damit die Prinzipien des italienischen Designkollektivs Memphis auf, das in den achtziger Jahren um den Architekten Ettore Sottsass entstanden ist. Die Objekte haben helle Farben und lustige Formen. Memphis wollte damals das Banale, das Alltägliche feiern. Das gefiel auch Menschen, die für gewöhnlich streng und seriös wirkten. Einer der prominentesten Anhänger war etwa der Modedesigner Karl Lagerfeld, der 1982 seine Wohnung in Monte Carlo mit Memphis-Möbeln einrichten liess.
So bunt, so süss!
Heute ist alles cute, oder noch aktueller: kawaii. Das japanische Wort hat sich längst zu einem Lifestyle-Phänomen entwickelt und findet Eingang in den westlichen Sprachgebrauch. Gemeint ist dabei alles, was irgendwie niedlich oder einfach liebenswert wirkt, wie etwa die Spielzeugkatze Hello Kitty. Übertragen hat sich die Ästhetik auch auf Musikvideos, nicht nur von asiatischen Pop-Stars, auch Künstlerinnen wie Sabrina Carpenter spielen mit den Elementen. Und selbst beim Essen geht es heute oft nicht mehr nur um Geschmack, sondern um den Jöh-Effekt, etwa wenn Bento-Boxen wie kleine Kunstwerke aussehen.
Unser Alltag ist kindlicher geworden. Anzugträger fahren mit dem E-Trottinett zur Arbeit. Erwachsene entdecken Lego wieder und kleiden sich kindlich – mit Schmuck wie aus dem Kaugummiautomaten, Taschen in Taubenform, Wassersandalen in Grösse 39 und Schleifchen an den Kleidern. Für Aufregung sorgte dieses Jahr auch der Hype um Labubus. Die Plüschtiere mit fratzigen Gesichtern waren ursprünglich bei Kindern beliebt, heute baumeln sie an Luxus-Handtaschen von Erwachsenen.
Die Möbelstücke sehen aus wie aus einem Comic entsprungen.
PD
Woher kommt diese Freude am Unerwachsenen? Die naheliegende Antwort lautet: Trost. In einer von Krisen erschütterten Welt suchen Menschen nach Geborgenheit – nach Plüsch, buntem Geschirr und Räumen, die an unbeschwerte Kindertage erinnern. Gleichzeitig ist die Infantilisierung womöglich eine Trotzreaktion auf die zum Verzicht aufrufende Moral der letzten Jahre: weniger Konsum, weniger Reisen, weniger Fleisch. Hedonismus passte lange nicht zum Zeitgeist – jetzt findet er den Weg in Form von Ironie zurück. Was bunt und niedlich ist, kann schliesslich keine bösen Absichten haben. Als Gustaf Westman die Meatballs-Platte zum ersten Mal vorstellte, kommentierte jemand: «Unnecessary, but so needed.» Unnötig, aber so vonnöten.
Nicht zuletzt sprechen Designer wie Westman ihre eigene Generation an, die sich dagegen zu sträuben scheint, erwachsen zu werden. Für sie hat das Einfamilienhaus mit Kind, Auto und Hund als Symbol des Erwachsenseins an Bedeutung verloren. Im Kinderzimmer scheint der Ernst des Lebens weit weg – hier kann man sich die Welt, ganz nach Pippi Langstrumpf, noch machen, wie sie einem gefällt.
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