Schwerer Stromausfall im Berliner Südosten: Wegen eines Brands an zwei Hochspannungsmasten waren mehr als 40.000 Haushalte in der Hauptstadt ohne Strom. Der Verkehr erfuhr erhebliche Einschränkungen, der Notruf ist teilweise nicht erreichbar. Die Polizei geht von Brandstiftung aus.
Am frühen Dienstagmorgen kam es in Berlin zu einem großflächigen Stromausfall. Ursache war ein Brand an zwei Hochspannungsmasten im Bereich Johannisthal/Königsheideweg. Betroffen waren mehrere 110-kV-Leitungen, die unter anderem die Umspannwerke Moissistraße, Wegedornstraße und das Fernheizkraftwerk Neukölln versorgen. Die Polizei geht von Brandstiftung aus. Der für politisch motivierte Straftaten zuständige Staatsschutz wurde nach WELT-Informationen in die Brandermittlungen einbezogen.
In einem Bekennerschreiben, das auf der linksextremen Internetseite Indymedia veröffentlicht wurde, stellen sich die Verfasser als anarchistische Gruppe dar, die den „militärisch-industriellen Komplex“ und das Fortschrittsversprechen von Technologie und Kapital angreift. Eine Polizeisprecherin sagte WELT, dass das Schreiben nun auf Echtheit überprüft werde.
Der Anschlag wird in dem Pamphlet als gezielter Angriff auf Europas größtem Technologiepark in Adlershof und die kritische Infrastruktur begründet. Der Ausfall sei zwar ein Kollateralschaden für Anwohner, aber im Vergleich zur „Zerstörung von Natur und Leben“ durch die dort ansässigen Firmen vertretbar. Genannt werden Unternehmen wie Atos, Astrial, DLR, Edag, Vinci, Jenoptik, Rohde & Schwarz, Siemens und Trumpf. Bei den Konzernen handelt es sich nach Ansicht der Verfasser um Firmen mit Verbindungen zu Militär, Rüstungsindustrie oder sicherheitstechnologischen Projekten.
Das Feuer selbst konnte bereits am Morgen gelöscht werden. Wie lange der Stromausfall noch andauern wird, ist unklar. Rund 15.000 Kunden konnten nach Angaben eines Stromnetz-Unternehmenssprechers über eine andere Leitung bereits am Vormittag wieder mit Strom versorgt werden. Tausende Haushalte werden aber wohl auch den gesamten Mittwoch über ohne Strom bleiben. Die Wiederversorgung für alle betroffenen Kunden werde im schlechtesten Fall im Laufe des Donnerstags erfolgen, teilte ein Sprecher von Stromnetz Berlin mit.
Patienten verlegt, Feuerwehren außer Dienst genommen
Nach internen Angaben von Stromnetz Berlin waren zeitweise fast 50.000 Endabnehmer ohne Strom – darunter rund 42.000 Haushalte und 3000 Gewerbebetriebe und Pflegeeinrichtungen. Nach Angaben der Feuerwehr wurden fünf Bewohner aus zwei Pflegeheimen vorübergehend in Krankenhäuser verlegt. Auch Einrichtungen der kritischen Infrastruktur wie ein Polizeirevier am Segelfliegerdamm, die Feuerwache Semmelweisstraße sowie eine Basisstation des Digitalfunks waren beeinträchtigt.
Drei Freiwillige Feuerwehren mussten außer Dienst genommen werden. Vattenfall, die Netzgesellschaft und Stromnetz Berlin haben Krisenstäbe gebildet. Techniker versuchen derzeit, alternative Leitungen zuzuschalten, wie es bereits beim Stromausfall in Köpenick praktiziert wurde.
„Erhebliche Einschränkungen“ im öffentlichen Nahverkehr
Die Menschen im Berliner Südosten mussten sich nach Angaben der Verkehrsinformationszentrale auf erhebliche Einschränkungen einstellen. „Die S-Bahnen und Straßenbahnen fahren nicht, Ampeln sind ausgefallen, Haushalte betroffen“, hieß es in der Nachricht. Es werde ein „schwieriger Morgen und Vormittag“ für den Südosten Berlins.
Die S-Bahn Berlin teilte mit, wegen des Ausfalls der Energieversorgung im Bereich Schöneweide könne es zu Verspätungen und Ausfällen kommen. Genannt wurden die Linien S8, S85, S9, S45, S46 und S47.
Zudem sei auch der Tiergartentunnel in der Hauptstadt bis zum Nachmittag erneut gesperrt, schrieb die Verkehrsinformationszentrale. Erst am Montag war die wichtige Nord-Süd-Verbindung mehrere Stunden dicht, laut Senatsverkehrsverwaltung wegen Krankmeldungen beim Personal.
Um 11:59 Uhr verschickte die Berliner Feuerwehr über die Warn-App „Nina“ eine amtliche Mitteilung. Die Einstufung: „Extreme Gefahr“. Hintergrund sei der Stromausfall im Bereich Berlin-Treptow/Köpenick, durch den in „gewissen Bereichen“ die Notrufnummern 110 und 112 über Mobilfunk zeitweise nicht erreichbar sind.
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) erklärte, der Stromausfall sei „die Folge eines gefährlichen Anschlags, der sich unmittelbar gegen die Berlinerinnen und Berliner richtet“. Mit dem Angriff würden „bewusst Menschenleben und die Sicherheit unserer Stadt gefährdet“. Wegner dankte allen Einsatzkräften. Er habe „volles Vertrauen“ in die Ermittlungsbehörden. „Berlin lässt sich nicht einschüchtern“, erklärte Wegner.
Die Betreiber des Technologieparks Adlershof reagierten mit Empörung auf den Brandanschlag. „Wir verurteilen Anschläge auf die Energieinfrastruktur aufs Schärfste, da solche Anschläge immer Menschenleben in Gefahr bringen“, erklärte der Geschäftsführer der WISTA Management GmbH, Roland Sillmann. Es seien alle Maßnahmen ergriffen worden, um die Arbeitsfähigkeit unter den gegebenen Umständen so weit möglich sicherzustellen. Manche Firmen hätten Bürotätigkeiten an andere Standorte verlagert. Andere seien zum Beispiel mit Notstromaggregaten auf derartige Fälle vorbereitet.
Der Sprecher der Gewerkschaft der Polizei Berlin, Benjamin Jendro, verurteilte den Anschlag scharf. „Dieser sinnfreie Brandanschlag ist kein Kinderspaß, sondern eine schwerwiegende Straftat mit massiven Auswirkungen auf zigtausende Menschen in unserer Stadt“, sagte er. Zugleich warnte Jendro, dass die kritische Infrastruktur aufgrund von Monopollösungen und fehlender Redundanzen nicht ausreichend gegen derartige Angriffe geschützt sei. „Hier wurde über Jahre geschlafen. Das wird die Landespolitik mit einzelnen Haushalten nicht aufholen können.“ Stattdessen brauche es auf Landesebene endlich ein Sondervermögen für Polizei, Justiz und Bevölkerungsschutz.
Bereits im Juli dieses Jahres hatte Martin Debusmann, Vorsitzender des Kompetenzzentrums Kritische Infrastrukturen (KKI), im Gespräch mit WELT eindringlich vor den systemischen Schwachstellen in der Hauptstadtregion gewarnt. Berlin sei in besonderem Maße verwundbar, weil nahezu alle lebensnotwendigen Ressourcen importiert würden. „Alles hängt mit allem zusammen: Strom, Wasser, Gas, IT – fällt ein Bereich aus, wirkt sich das sofort auf andere Sektoren aus“, sagte Debusmann. Besonders kritisch sieht er den Umgang mit sensiblen Infrastrukturdaten, deren Veröffentlichung er als „Blaupause für Sabotageakte“ bezeichnete.
Erst vor wenigen Tagen hatte Tesla angekündigt, in Berlin-Köpenick ein europäisches Entwicklungszentrum aufzubauen, das ab 2026 den Betrieb aufnehmen soll.
Die mutmaßliche Brandstiftung in Johannisthal erinnert unterdessen auch an frühere Anschläge, die der linksextremistischen „Vulkangruppe“ zugeschrieben werden und unter anderem das Tesla-Werk in Brandenburg zum Ziel hatte. Auch damals wurde eine Stromtrasse attackiert. Nach Recherchen dieser Redaktion führt der Generalbundesanwalt inzwischen ein Komplexverfahren, in dem mehrere Taten zusammengeführt werden – ein Indiz dafür, dass die Ermittler von einer zusammenhängenden Struktur ausgehen. Unklar bleibt jedoch, ob es sich tatsächlich immer um denselben Täterzirkel handelt, zumal die Gruppe ihre Bekennerschreiben variabel unter unterschiedlichen Namenszusätzen veröffentlicht.
rct/dpa