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Immer mehr mutmaßlich extremistische Kandidaten wollen bei Bürgermeister- und Landratswahlen antreten. Ehrenamtliche Wahlausschüsse prüfen zuvor deren Verfassungstreue – und stoßen dabei an ihre Grenzen, wie Recherchen von Report Mainz zeigen.
Von Daniel Hoh, Philipp Reichert und Anna Stradinger, SWR
Für Ulrich Koch war es keine leichte Entscheidung. „Es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagt er. Der SPD-Lokalpolitiker sitzt im Stadtrat von Paderborn und ist auch Mitglied des örtlichen Wahlausschusses. Im Juli musste er mit sechs weiteren Ausschussmitgliedern über die Zulassung der Kandidaten für die Bürgermeisterwahl am kommenden Sonntag in Paderborn entscheiden, normalerweise ein Routine-Vorgang. Dieses Mal stand auch der AfD-Kandidat Marvin Weber auf der Bewerberliste, eine Person, die der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz im Blick hat.
Kurz vor der entscheidenden Sitzung des Wahlausschusses traf ein 24-seitiges Schreiben aus dem Düsseldorfer Innenministerium im Paderborner Rathaus ein. In dem heißt es unter anderem, dass Marvin Weber Menschen mit Migrationsbiografie pauschal herabwürdige, fremdenfeindliche Äußerungen tätige. Auch relativiere er den Nationalsozialismus. Das Fazit des Verfassungsschutzes NRW: Es lägen „tatsächliche Anhaltspunkte“ dafür vor, dass Weber „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ verfolge.
Verfassungstreue auf dem Prüfstand
Auf Anfrage des ARD-Politikmagazins Report Mainz weist der AfD-Kandidat die Vorwürfe des Verfassungsschutzes zurück. Kritik am politischen Islam sei weder per se islamfeindlich noch fremdenfeindlich, seine vom Verfassungsschutz zitierten Aussagen bewegten sich „allesamt im Rahmen der Meinungsfreiheit“. Seine politischen Positionen dienten vielmehr der Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, sagt er.
Wahlausschuss-Mitglied Koch hat im Juli für die Zulassung aller Kandidaten für die Bürgermeisterwahl gestimmt, damit auch für Weber. Der Hauptgrund: juristische Bedenken. Denn eine rechtliche Sicherheit, ob der AfD-Politiker tatsächlich ein Verfassungsfeind ist, gibt es nicht. Es gibt nur die Einschätzung des Verfassungsschutzes, die aber noch kein Gericht bewertet hat.
Das Votum fiel 5:2 aus, nur die beiden Vertreter der Grünen im Wahlausschuss stimmten mit Nein. „Uns Ehrenamtlern diese Entscheidung zu überlassen – ist er, ist er das nicht? Das kann man uns nicht zumuten“, sagt Koch. Die rechtliche Unsicherheit im Wahlausschuss war am Ende zu groß, nicht nur in Paderborn.
AfD-Kandidat abgelehnt
Bundesweit stehen kommunale Wahlausschüsse vor der Frage: Wie umgehen mit umstrittenen, mutmaßlich extremistischen Kandidaten? Allein in den vergangenen fünf Jahren gab es mindestens 20 Fälle, bei denen es Diskussionen über die Verfassungstreue gab. Das zeigt eine Presseauswertung von Report Mainz. Dabei ging es um Kandidaten unterschiedlicher Parteien. Angesichts des Erstarkens der AfD rechnet der Landkreistag damit, dass kommunale Wahlausschüsse künftig immer mehr gefordert würden.
Für Schlagzeilen sorgte in den vergangenen Wochen unter anderem die Situation in Ludwigshafen. Hier bewarb sich der AfD-Landtagsabgeordnete Joachim Paul um das Amt des Oberbürgermeisters. Doch der Wahlausschuss lehnte ihn mit 6:1 Stimmen ab. Seit Jahren gibt es Berichte, die Zweifel an Pauls Verfassungstreue säen. So bewegt er sich seit Langem in rechtsextremen Kreisen, pflegt zum Beispiel Kontakte zu Martin Sellner, dem österreichischen Vordenker der Neuen Rechten.
Paul ist auch Mitglied in einer Burschenschaft, die 2011 eine Art „Ariernachweis“ für neue Mitglieder forderte. 2023 sprach er sich zudem in einem Meinungsbeitrag für das Konzept der „Remigration“ aus, er schrieb: „‚Remigration‘ statt Unterwerfung“.
Auch die Sicherheitsbehörden beschäftigten sich mit ihm. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erwähnt ihn mehrfach im AfD-Gutachten, der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz legte vor der Sitzung des Wahlausschusses ein Papier über Paul vor. Er selbst wehrt sich gegen diese Einschätzung. Er sei ein Demokrat, ein engagierter Politiker, sieht sich zu Unrecht von der Wahl ausgeschlossen. Die anderen Parteien im Wahlausschuss hätten ihn als Konkurrenten loswerden wollen.
Wahlausschüsse fühlen sich alleingelassen
Paul ging juristisch gegen die Entscheidung des Wahlausschusses in Ludwigshafen vor. Doch sowohl das Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße als auch das Oberverwaltungsgericht Koblenz urteilten, dass das Verfahren keine offensichtlichen Fehler enthalten habe. Ob sein Ausschluss aber grundsätzlich richtig war, kann Paul erst nach der Wahl überprüfen lassen. Bekäme er Recht, müsste die Wahl wiederholt werden.
Für Peter Uebel, CDU-Fraktionsvorsitzender im Stadtrat von Ludwigshafen, ist der Fall Anlass genug, um auf eine rechtliche Reform zu drängen. Sollen allein ehrenamtliche Lokalpolitiker über die Frage der Verfassungstreue von Kandidaten entscheiden? „Das kann nicht sein, dass ein Wahlausschuss in der Kommune sozusagen diese gravierenden Entscheidungen treffen muss, sondern das muss anders laufen“, sagt Uebel.
Denn eine Kritik taucht öfter in der Argumentation von Populisten auf: Die kommunalen Wahlausschüsse seien nicht unabhängig, hier würden Parteipolitiker entscheiden, ob der jeweilige politische Konkurrent zu einer Wahl zugelassen werde oder nicht. „Ich bin kein Jurist, aber ich denke schon, dass man da die Gesetzgebung entsprechend anpassen muss“, meint das CDU-Mitglied Uebel.
Rechtsexperte sieht Reformbedarf
Unterstützung erhält er dabei unter anderem von Rechtswissenschaftlern, etwa von Christian Pestalozza von der Freien Universität Berlin. Der Verfassungsrechtler fordert, die unabhängige Justiz in solchen Verfahren früher zu beteiligen. Der Gesetzgeber müsse sich entsprechend Gedanken für eine Reform machen.
„Diese elementaren Dinge, die das Grundrecht auf Wählbarkeit berühren, die sollten vorher geklärt werden“, so Pestalozza im Interview mit Report Mainz. Dies würde schon vor der Wahl Rechtssicherheit schaffen und auch die Glaubwürdigkeit demokratischer Verfahren stärken.