Wahrscheinlich wäre Thi Phong Tran da oben im Himmel jetzt sehr glücklich, wenn sie auf die Schar ihrer Nachkommen blicken könnte. Auf ihre sieben Söhne und fünf Töchter. Die Enkel und die Urenkel. Wie sie zusammensitzen und erzählen, gemeinsam essen. Wie die Jungen von den Älteren wissen wollen, wie es war, als sie noch nicht auf der Welt waren. Thi Phong Tran würde sich vermutlich darüber freuen, dass ihre zwölf Kinder ein gutes Leben haben.
Aus diesem Grund fällt auch die Traueranzeige für sie in der Zeitung auf. Sie endet mit einem Dank für das, was Thi Phong Tran gelungen ist: „Dir, liebe Oma, gilt unsere tiefe Dankbarkeit – dafür, dass wir durch deinen Lebensweg in Sicherheit aufwachsen dürfen. Deine Enkel und Urenkel.“
Dazu ein Gedicht, verfasst von ihrem ältesten Sohn Chin Tran. Der 75-Jährige lebt im US-Bundesstaat Arizona und schreibt:
„Ich denke an Mutter und ihre dampfenden Reiskuchen,
die sie im ersten Licht des Tagesauf dem Kopf balancierte.
Ihre kleinen Füße wankend
durch die Gassen von Ban Co.
Schweiß tropfte, sie wischteihn mit dem Zipfel ihres Hemdes.
Ich denke an Mutter,wie sie Tabakpäckchen rollte
und heimlich auf dem Marktvon Binh Tay verkaufte.
Die Steuerbeamten verhaftetensie eines Tages.
Sorgen und Tränen um jedesReiskorn für ihre Kinder.“
Geschrieben hat Chin Tran diese Zeilen auf Vietnamesisch, als er im Frühjahr im Flugzeug nach Deutschland saß, um seine sterbende Mutter noch ein letztes Mal zu sehen. Alle ihre Kinder und Enkel machten sich in diesen Tagen aus allen Himmelsrichtungen auf den Weg, um sich zu verabschieden, erzählt die Enkelin Helen. Sie las das Gedicht ihres Onkels in der Familien-Whatsapp-Gruppe, postete, dass man es dringend ins Deutsche übersetzen und in der Traueranzeige drucken müsse.
Was ist das für eine Familie?
Ein solcher Dank macht neugierig auf die Verstorbene, die in Weingarten, Ravensburg, aber auch eine Zeit lang bei einer ihrer Töchter in Stuttgart wohnte. Wie war ihr Leben? Und was ist das für eine Familie, die sich so liebevoll von ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter verabschiedet?
Die Todesanzeige. Foto: StZN
Mehrere Videocalls und Telefonate später sitzen alle zwölf Kinder am Rande des Sportgeländes in Stuttgart-Feuerbach um einen Tisch. Darauf stehen die Fotos ihrer Eltern. Chin Tran ist wieder aus den USA angereist. Vor dem Tagungshaus stehen Autos, deren Kennzeichen verraten: die Familie lebt in ganz Deutschland verstreut. Vom Bodensee und aus Mannheim, aus Nordrhein-Westfalen, Hessen und Bayern kommen sie. Sie sind Bierbrauer, kaufmännische Angestellte, Heilpraktiker, sie arbeiten in der Automobilindustrie oder in der Forschung für die Industrie. Ein Querschnitt durch die Arbeitswelt und durch die Republik.
Mehr als 60 Menschen sind für ein verlängertes Wochenende angereist – vom 75-Jährigen bis zum Säugling. Wahrscheinlich würde Thi Phong Tran das Zusammenkommen auf der Wiese im Schatten der Bäume sehr genießen. Aber es ist nun das erste Familientreffen ohne sie. Mit 94 Jahren ist sie im März gestorben. Vermutlich wird sie allen Gästen ein Gebet vom Himmel auf die Erde schicken.
Leidensgeschichte in Vietnam
Die Hölle unten auf Erden, die hat sie wahrlich schon erlebt – und zwar in ihrem Heimatland Vietnam. Geboren in eine buddhistische Familie trat sie nach ihrer Heirat mit 17 Jahren zum katholischen Glauben über. „Dieser Glaube war es, der ihr die Kraft zum Über- und Weiterleben gegeben habe“, sagt ihr jüngster Sohn Manh Hung Tran, Jahrgang 1970. Er ist das elfte Kind, hat noch eine jüngere Schwester. „Wenn ich mich an Mutter erinnere, dann höre ich ihre Stimme. Höre, wie sie betet.“
Manh Hung Tran (links) im Flüchtlingslager Foto: privat
Wenn Manh Hung Tran von seiner Mutter erzählt, berichtet er von einem Leben, das bestimmt war von Krieg, Gewalt, politischen Umbrüchen, wiederholter Entwurzelung – aber auch von Mut und Zuversicht. Das Leben von Thi Phong Trans ist eines zwischen dem Abschied von Vietnam und dem Neuanfang in Deutschland. Dass der Neuanfang gelungen ist, zeigt dieses Familienfest.
Zu überstehen gab es viel in diesem Leben. Im Krieg zwischen dem kommunistischen Norden und dem westlich orientierten Süden in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren. Oder bei der Übersiedlung der Familie aus der Heimat im Norden in den Süden von Vietnam. Das war der erste Heimatverlust in dem 94 Jahre langen Leben. „Unsere Eltern mussten alles zurücklassen.“
Ehemann im Umerziehungslager
Nach dem Sieg der Kommunisten und der Wiedervereinigung Süd- und Nordvietnams wurde Trans’ Ehemann Cong Ro Tran, der für die Amerikaner gearbeitet hatte, in ein sogenanntes Umerziehungslager gesteckt. Die jüngste Tochter war damals gerade mal drei Jahre alt. Von diesem Tag an war es die Aufgabe seiner Frau, sich und ihre Kinder irgendwie durchzubringen. Bisher war der Vater der Haupternährer gewesen.
Einmal im Jahr durfte ihn seine Frau in dem Lager besuchen. Ein einziges Mal, erinnert sich Manh Hung Tran, war auch er dabei. Die Erinnerung des jüngsten Sohns ist schemenhaft. Er weiß aber: Sieben Jahre litt der Vater unter unvorstellbar schlimmen Bedingungen in der Gefangenschaft, bis ihn die Machthaber 1982 schließlich sterbenskrank und abgemagert bis auf die Knochen zurück zu seiner Familie schickten.
Eine Woche nach seiner Rückkehr war er tot. „Es gab keine Gelegenheit mehr, mit ihm Zeit zu verbringen“, sagt sein ältester Sohn Chin Tran. Alle im Dorf wollten den Rückkehrer sehen, weil es so außergewöhnlich war, dass jemand die Torturen der Umerziehung und Zwangsarbeit überlebt hatte.
Neugierige Enkelgeneration
Wie mag seine Ehefrau diese kurze Zeit der Rückkehr erlebt haben? An dem, was Thi Phong Tran durchlitten hat, könnte man zerbrechen. Aber die kleine Frau ist offenbar immer wieder aufgestanden – für sich, vor allem aber für ihre Kinder und damit auch für deren Kinder. Unheimlich stark sei sie gewesen, da sind sich ihre Nachkommen einig. Eine Frau, die allen immer wieder Mut gemacht habe. „Sie hat viel gelacht, war fröhlich“, erzählt Enkelin Helen, die erst spät vom Leidensweg ihrer Großmutter vor der Flucht erfahren hat. „Durch das Gedicht meines Onkels ist es mir bewusst geworden.“
Ein Großteil von Helens Onkel und Tanten sind sogenannte Boatpeople. Sie haben den gefährlichen Weg übers Meer in die Freiheit gewagt – und auch alle überlebt, was wahrlich keine Selbstverständlichkeit war.
Ihr Ziel war Deutschland. Dort lebte ein Onkel als Zisterziensermönch und Pfarrer in dem oberschwäbischen Dorf Maselheim. Als der Krieg zwischen Vietnam und den Roten Khmer aus Kambodscha Ende der 1970er Jahre begann, wurden die vietnamesischen Männer eingezogen. Für Thi Phong Tran, Mutter von sieben Söhnen, war klar: „Meine Jungs müssen so schnell wie möglich weg.“ Sie sollten nicht in diesen Krieg ziehen. Sie verwendete alle ihre Kraft darauf, Geld zu verdienen, um ihnen die Flucht aus Vietnam zu ermöglichen. Die Ersten von ihnen wagten die Flucht 1979 – und kamen über Zwischenstationen in Deutschland an.
Manh Hung Tran, der Jüngste, machte sich mit zwei älteren Schwestern als Neunjähriger ein paar Monate später ebenfalls über die lebensgefährliche Route auf den Weg. Sie brauchten mehrere Anläufe. Mit mehr als 60 Menschen saßen sie dann in einem völlig überladenen Holzboot. Nach einem Tag waren die Vorräte aufgebraucht. Sie hatten keine Vorstellung, wie lange sie unterwegs sein würden. Soldaten hielten sie auf, nahmen ihnen die letzten Besitztümer ab, um sie schließlich die Grenze zu Thailand auf hoher See passieren zu lassen. Dreimal wurden sie von Piraten ausgeraubt.
Das Grauen des Flüchtlingslagers
Der Junge beobachtete schreckliche Dinge. Von verzweifelt weinenden Kindern bis zu Vergewaltigungen. „Das will ich gar nicht erzählen“, sagt Manh Hung Tran.
Er und die anderen vietnamesischen Flüchtlinge wurden wie Treibgut behandelt, bis sie schließlich in einem thailändischen Flüchtlingslager landeten. Als Kontingentflüchtlinge konnten sie dann zu ihren Verwandten weiterreisen, die bereits in Deutschland waren. Welche Ängste mag ihre Mutter während der Zeit ausgestanden haben, als sie nichts von ihren Kindern hörte? Nicht wusste, ob sie noch leben.
Manh Hung Tran erinnert sich an die sommerliche Hitze und die freundlichen Menschen bei seiner Ankunft 1980 in Deutschland. Zehn Jahre war er alt, als er ein gänzlich neues Leben begann. Göppingen, Bad Buchau und 1981 eine Förderschule in Schwäbisch Gmünd waren seine ersten Stationen. Er erlebte das alles als Abenteuer. Und sagt, was er wohl von seiner Mutter übernommen hat: „Es gibt nur die Zukunft.“
Thi Phong Tran und ihre zwei Töchter kamen im Rahmen der Familienzusammenführung per Flugzeug 1983 nach Deutschland. „Das war das Schönste, was ich je erlebt habe“, erinnert sich Manh Hung Tran: Endlich die Mutter wieder in die Arme schließen zu können. Nach weiteren Stationen lebte die Familie schließlich in Ravensburg – in der Nähe des Onkels und Schwagers, dem Zisterziensermönch. „Für uns alle war es das Paradies. Wir hatten nichts und haben Essen und Kleidung bekommen. Dafür sind wir sehr dankbar“, sagt Manh Hung Tran mit Tränen der Rührung in den Augen.
Einmal zurück nach Vietnam
Ihre Mutter lebte all die Jahre bei einem ihrer Kinder. Einmal reiste sie noch zurück nach Vietnam, um Verwandte zu besuchen. Und mindestens einmal im Jahr ist die gesamte Familie immer zusammengekommen. Das soll auch nach ihrem Tod so bleiben. Die Wohnung, in der die Großmutter gewohnt hat, soll auf alle Fälle weiter an sie erinnern. „Das ist unsere familiäre Heimat“, sagt ein Enkel.
Gleich werden sie ihren Schattenplatz unter den Bäumen gegen ein Platz im Inneren des Gebäudes tauschen. Ein kleiner Altar ist dort aufgebaut. Da werden sie für die Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und die anderen Verstorbenen ihrer Familie beten.