Nr. 37 – 11. September 2025

Strafrecht, Militär, Bildung: Mit einer umfassenden Strategie lässt der Kreml die besetzten ukrainischen Gebiete «russifizieren». Wie die Okkupant:innen dabei vorgehen, erklärt Menschenrechtlerin Onysiia Syniuk.

Diesen Artikel hören (13:24)

-15

+15

-15

/

+15

Teilen

Ukrainische Schülerinnen am ­russischen «Tag der Flagge» im besetzten Mariupol

«Die Russifizierung ist nach Putins Lesart nur die Rückkehr in die Heimat»: Ukrainische Schülerinnen am ­russischen «Tag der Flagge» im besetzten Mariupol.
Foto: Alexander Ivanov, Keystone

Von einem «Gebietstausch» sprach US-Präsident Donald Trump nach einem Treffen mit Wladimir Putin – und meinte die potenzielle Abtretung jener fast zwanzig Prozent ukrainischen Territoriums, die derzeit von Russland besetzt sind. Dass es dabei nicht bloss um Land geht, sondern um das Schicksal von Millionen Menschen, die dem russischen Gewaltregime dauerhaft ausgeliefert würden, betonen viele Ukrainer:innen, mit denen man dieser Tage spricht – so auch die Juristin Onysiia Syniuk. Sie ist Mitautorin eines neuen Berichts zu willkürlichen Inhaftierungen und der Praxis des Verschwindenlassens in den Jahren 2023/24.

WOZ: Frau Syniuk, die besetzten Gebiete wirken für Aussenstehende wie eine Blackbox. Wie haben Sie dort recherchiert?

Onysiia Syniuk: Unsere Dokumentationsabteilung arbeitet mit offen zugänglichen Quellen, etwa Informationen aus den Verwaltungen in den besetzten Gebieten oder mit russischen Gesetzestexten. Und mit Aussagen von Zeug:innen – Menschen, die geflohen sind, oder Familien der Inhaftierten, die sich in den ukrainisch kontrollierten Gebieten befinden. Leute in den besetzten Gebieten selbst kontaktieren wir nicht: Sollte jemand erfahren, dass sie Informationen mit uns teilen, könnten wir ihre Sicherheit nicht garantieren. Weil eine Flucht inzwischen aber für immer weniger Menschen möglich ist, wird die Materialbeschaffung auch immer schwieriger.

Die Menschenrechtlerin

Onysiia Syniuk hat in Kyjiw internationales Recht studiert und arbeitet als juristische Analystin bei Zmina. Für das Menschenrechtszentrum hat sie an mehreren Berichten mitgeschrieben: über die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland und Belarus, die Zwangsmobilisierung und -rekrutierung ukrainischer Staatsbürger:innen in den besetzten Gebieten oder die Situation in den Gefängnissen dort. Der neuste Bericht ist Ende August erschienen und wurde vom Schweizer Aussendepartement unterstützt.

 

Portraitfoto von Onysiia Syniuk

ausklappen

einklappen

WOZ: In Ihrem neuen Bericht beschreiben Sie die Zeit nach den illegalen Referenden über den Anschluss der vier ukrainischen Regionen: Russland habe in den annektierten Gebieten einen «normativen und institutionellen Rahmen» geschaffen. Wie zeigt sich dieser?

Onysiia Syniuk: Mit der Zeit entstand eine Verwaltungsstruktur, ein ganzer Staatsapparat. Auf der Krim etwa hat Russland gleich nach der Annexion 2014 mit dem Aufbau eines eigenen Justizsystems begonnen: Man brachte russische Richterinnen und Staatsanwälte auf die Halbinsel, installierte russische Gerichte, unterstellte das Leben russischem Recht. Ähnlich lief es später in Cherson und Saporischschja ab. In Donezk und Luhansk wiederum erhielten die Besatzer:innen die Illusion aufrecht, es handle sich um unabhängige «Volksrepubliken». Erst nach Beginn der Vollinvasion 2022 erfolgte auch dort die Umstellung auf das russische System. Heute sind in den besetzten Gebieten die russischen Strafverfolgungsbehörden zuständig.

WOZ: Welche Folgen hatte die Umstellung für die Bevölkerung?

Onysiia Syniuk: Sie zwingen die Ukrainer:innen, einen russischen Pass anzunehmen, weil sie sonst keine Kranken- oder Sozialversicherung bekommen. Wer sich weigert, gilt als «Ausländer» und muss eine Aufenthaltsbewilligung beantragen. Sind die Leute erst einmal russische Staatsbürger:innen, können sie nach russischem Recht angeklagt werden, wenn auch zuweilen erst Monate nach der Festnahme. Dies macht es möglich, sie der Spionage zu bezichtigen – eines Vergehens, das man nur den eigenen Staatsbürger:innen anlasten kann. Durch die offizielle Anklage wird die willkürliche Haft nachträglich legalisiert.

WOZ: Was ist über die Haftbedingungen bekannt?

Onysiia Syniuk: Ob in den besetzten Gebieten oder in Russland selbst, unmenschlich sind die Haftbedingungen immer: viel zu viele Gefangene in viel zu kleinen Zellen, nicht genug Schlafplätze oder Essen. Teilweise wird eine fixe Menge Nahrungsmittel auf alle Häftlinge verteilt – wer erst am Schluss an der Reihe ist, erhält nichts mehr. Gefangene haben uns berichtet, wie sie sich selbst bei der Essensausgabe beschränkten, damit die Letzten auch noch etwas bekommen. Hinzu kommen die Schläge und Beschimpfungen, Folter zur Beschaffung von Informationen.

WOZ: Und aus welchen Gründen geraten die Leute ins Visier der Strafverfolgungsbehörden?

Onysiia Syniuk: Als es noch keinen institutionellen Rahmen gab, verfolgten die Russ:innen einen breiten Ansatz: Sie nahmen alle fest, die auch nur im Entferntesten eine Gefahr darstellten, sie verschleppten, inhaftierten und folterten. Leute, bei denen sie eine Unterstützung der ukrainischen Armee vermuteten, die öffentlich Ukrainisch sprachen oder Symbole bei sich trugen, die mit der Ukraine in Verbindung stehen, wie die Farben der Nationalfahne oder das ukrainische Wappen. Die Besatzer:innen gingen von Tür zu Tür, um die Bewohner:innen auszufragen: Was denken Sie über die militärische Spezialoperation? Wie stehen Sie zu Präsident Putin? Kennen Sie jemanden, der oder die in der ukrainischen Armee dient?

WOZ: Wie hat sich die Praxis mit der Zeit verändert?

Onysiia Syniuk: Inzwischen sind der Geheimdienst FSB und die russische Ermittlungsbehörde viel stärker involviert. Wer keinen russischen Pass hat, ist verdächtig. Zudem haben sie einen Überwachungsapparat aufgebaut, überprüfen Handys, beobachten Social Media. Es reicht schon, Beiträge zu posten, in denen man den Opfern eines russischen Angriffs sein Beileid ausdrückt, um befragt zu werden. Suspekt sind auch Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, oder Leute, die nicht an bestimmten Veranstaltungen teilnehmen, an denen Soldaten gewürdigt werden oder die Nationalhymne gesungen wird. Die Weigerung, am Gemeinschaftsleben teilzunehmen, sehen die Besatzer:innen als Zeichen dafür, dass man gegen die Besetzung ist. Weil sie nicht mehr von einer potenziellen bewaffneten Revolte ausgehen, suchen sie nach zivilem Widerstand. Die Herrschaft funktioniert wie in Russland – so, wie es dort keine freie Zivilgesellschaft gibt, wird diese auch unter der Besatzung unterdrückt. Keine Organisation kann ohne die Erlaubnis der Verwaltung arbeiten, und hat sie eine, wird keine dissidente Meinung mehr geduldet.

WOZ: Sie sprachen die «Russifizierung» an. Welches Ziel verfolgen die Besatzer:innen damit?

Onysiia Syniuk: Putin selbst schrieb kürzlich über das «Wesen der ukrainischen Bevölkerung» und ihre Beziehungen zu Russland: Demnach gibt es gar keine Ukrainer:innen, sie sind Russ:innen, die das bloss vergessen haben. Die Russifizierung ist nach dieser Lesart nur die Rückkehr in die Heimat. Zurück zum Ursprung, denn was den Leuten über das Ukrainischsein beigebracht wurde, dass die Ukraine eine eigenständige Nation mit eigener Sprache ist, seien alles Lügen – erzählt, um zwei «Brüdervölker» zu spalten.

WOZ: Wie drückt sich das im Alltag aus?

Onysiia Syniuk: Besonders stark fokussiert wird auf die Bildung: In den Schulen finden «Gespräche über Wichtiges» statt, wo die Lehrerin mit den Kindern über aktuelle politische Themen diskutiert, Propagandanarrative inklusive. Und gleich zu Beginn ersetzten sie die ukrainischen Bücher in den Bibliotheken und Schulen durch russische. Es gebe keine Nachfrage, Ukrainisch zu lernen, behaupteten sie – und lösten die Ukrainischklassen auf. Dann wurden russische Lehrer:innen in die besetzten Gebiete gebracht, es entstanden kulturelle Angebote und Austauschprogramme: Die Kinder können nach Moskau oder St. Petersburg reisen, um «die Schönheit der russischen Kultur» kennenzulernen. So verdrängen sie nach und nach die ukrainische Sprache – bis es gar kein Verbot mehr braucht, weil niemand mehr eine Möglichkeit hat, mit ihr in Berührung zu kommen.

WOZ: Eine andere Komponente ist die Militarisierung des Alltags.

Onysiia Syniuk: Sie wollen, dass sich die Leute als Russ:innen identifizieren, denn nur so können sie davon überzeugt werden, die «Heimat» zu schützen. In den Schulen gibt es Kadettenklassen, für die sich Kinder ab einem gewissen Alter bewerben können und in denen verstärkt Vorbereitung fürs Militär stattfindet. Und ausserhalb gibt es militarisierte Jugendgruppen wie Junarmija oder die Bewegung der Ersten, wie sie auch in Russland selbst operieren. Es geht darum sicherzustellen, dass ein bestimmter Prozentsatz später zur Armee geht, um für Russland zu kämpfen: Ukrainer:innen, die im Kampf gegen die Ukraine und potenziell weitere Länder eingesetzt werden sollen.

WOZ: Was soll mit dieser Politik erreicht werden?

Onysiia Syniuk: Letztlich dient die Russifizierung dazu, die Bewohner:innen der besetzten Gebiete zu Russ:innen zu machen – von der Staatsbürgerschaft bis zur Mentalität. Hinzu kommt der Versuch, die Demografie der Bevölkerung zu verändern. Viele Ukrainer:innen sind geflohen, derweil die russische Regierung heimische Unternehmen dazu anhält, in den besetzten Gebieten Büros zu eröffnen und Mitarbeiter:innen mitzunehmen. Sind die Territorien erst mal mental und juristisch russisch, werden sie wohl nie zur Ukraine zurückkehren. Das russische Regime ist eine Mischung aus imperialem und kolonialistischem Projekt. Insofern ist die Russifizierung auch die Fortführung einer Praxis, die in der russischen Geschichte schon andernorts erprobt wurde.

WOZ: Die Verbrechen des russischen Staates in den besetzten Gebieten sind Gegenstand juristischer Debatten, wegen der Deportation ukrainischer Kinder ist in Den Haag eine Klage hängig. Wie würden Sie als Juristin die Verstösse klassifizieren?

Onysiia Syniuk: Zum einen gibt es im Völkerstrafrecht das Verbrechen der Aggression – im Fall von Russland wird dieser Straftatbestand nun vor einem internationalen Tribunal verhandelt. Festzustellen, dass eine solche Aggression nicht geduldet wird, wäre nicht nur für die Ukraine wichtig. Die anderen Verbrechen sind Gegenstand heftiger Diskussionen. Ich habe das Gefühl, dass manche eine Hierarchie herzustellen versuchen: Genozid ist demnach das Schlimmste, Kriegsverbrechen weniger schlimm. Eine solche Hierarchie gibt es juristisch nicht, sondern jeweils unterschiedliche Definitionen der einzelnen Straftatbestände.

Ukrainische Expert:innen bezeichnen die Deportation ukrainischer Kinder als Genozid.

Onysiia Syniuk: Ich glaube, für diese Einschätzung gibt es eine juristische Grundlage: Es geht um die Überführung von Kindern einer nationalen Gruppe in eine andere – mit dem Ziel, dass künftige Generationen von Ukrainer:innen nicht mehr ukrainisch sind. Die willkürlichen Inhaftierungen, die Folter und das Verschwindenlassen wiederum sind wohl als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten. Sie sind eingebettet in ein System, das vom Staat und dessen Gefolgsleuten aufrechterhalten wird. Um das nachzuweisen, müssen lediglich genug Beweise gesammelt werden. Alles in allem sind es Verbrechen, die vor Gericht gehören.

WOZ: Nicht nur in Russland, auch in Ländern wie den USA gerät das internationale Recht immer stärker unter Druck.

Onysiia Syniuk: Die Haltung der USA gegenüber dem Völkerrecht war schon immer fragwürdig: Sie haben schon vor Trump den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) kritisiert, wo sie auch nicht Mitglied sind. Aber das Problem ist grösser: Der Aufstieg rechtsextremer Regierungen beeinflusst den Umgang mit dem Völkerrecht. Diese betrachten es als blosse Empfehlung, die ignoriert werden kann. Stattdessen soll wieder das Recht des Stärkeren gelten. In Europa will etwa Ungarn aus dem IStGH austreten – und das Schlimme daran ist das Beispiel, mit dem solche Länder vorangehen. Die Mächtigen sehen keinen Vorteil für sich, weil das Völkerrecht sie daran hindert, ihre Interessen durchzusetzen. Und die Schwächeren fühlen sich nicht mehr vor den Stärkeren beschützt. Das führt dazu, dass niemand mehr ans Völker-recht glaubt. Der idealistische Ansatz wäre, zu sagen, wir seien am schlimmstmöglichen Punkt angelangt. Von hier aus muss man versuchen, ein System aufzubauen, das verhindert, dass das Gesetz des Stärkeren erneut zum Tragen kommt.