In Frankreich hat sich eine neue Protestwelle formiert. Zehntausende gehen im ganzen Land gegen die Sparpläne der Regierung auf die Strasse. In der nordfranzösischen Industriestadt Saint-Étienne-du-Rouvray träumen sie schon vom Ende der Ära Macron.

Ein Demonstrant reckt seine Faust in der Nähe des Bahnhofs Gare du Nord in Paris in die Höhe. Ein Demonstrant reckt seine Faust in der Nähe des Bahnhofs Gare du Nord in Paris in die Höhe.

Benoit Tessier / Reuters

Ein Hauch von Revolution liegt über dem Rond-point des vaches, dem «Kreisverkehr der Kühe». Junge Leute stehen auf der Verkehrsinsel im Norden Frankreichs und schwenken Symbole ihres Protestes: Fahnen der Gelbwesten-Bewegung, schwarz-rote Antifa-Fahnen und solche mit Regenbogen. Auch eine palästinensische Flagge flattert an einem Verkehrsschild. Dünne Rauchschwaden steigen aus zwei kleinen Feuern auf.

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Daivy Cos und seine Freunde sind schon seit den frühen Morgenstunden auf der Strasse. Der 26-jährige Konditor konnte es kaum erwarten, an diesem Mittwoch – dem Tag, an dem in Frankreich «alles blockiert» werden sollte – Barrikaden zu errichten und Flugblätter an Autofahrer zu verteilen. Zuerst fuhr er nach Rouen, bis dort der Regen einsetzte. Dann weiter ins benachbarte Saint-Étienne-du-Rouvray, eine kleine Industriestadt, die bekannt ist für ihre aufsässigen Bürger.

«Alles blockieren»

«Wir haben uns lange auf diesen Tag vorbereitet», sagt Daivy, «es ist an der Zeit, dass die, denen Macron nicht mehr zuhören will, sichtbar werden.» Der junge Anhänger der Gelbwesten-Bewegung war schon als Jugendlicher Ende 2018 bei den Demonstrationen dabei, wie er sagt. Damals, als die Gilets jaunes im ganzen Land Strassen besetzten, um ihrer Wut über die steigenden Energiepreise und die soziale Ungerechtigkeit Luft zu machen. Als sich im Norden Frankreichs der Kreisverkehr der Kühe in einen der wichtigsten Sammelpunkte des Protests verwandelte.

Aus Wut über den Sparkurs der Regierung hätten sie sich entschieden, ihren «revolutionären Geist» von damals wiederaufleben zu lassen, sagen die Gelbwesten von Saint-Étienne-du-Rouvray. Schon im Juni sollen Aktivisten der Bewegung begonnen haben, sich wieder, wie vor acht Jahren, über die sozialen Netzwerke zu organisieren. Neue, lose organisierte Bürgerkollektive wie «Les Essentiels» oder «Indignons-nous» gesellten sich dazu und erfanden eine Parole: «Bloquons tout!», «Blockieren wir alles!»

Am 10. September, so überlegten sie sich, sollten alle Französinnen und Franzosen zu Hause bleiben, den Fernseher ausschalten, dem Computer den Stecker ziehen, keine Einkäufe machen oder aber: auf die Strasse strömen, den Verkehr blockieren, öffentliche Plätze, Bahnhöfe, Flughäfen besetzen. Präsident Emmanuel Macron, gegen dessen liberale Sozialpolitik die Gilets jaunes schon vor acht Jahren protestierten, müsse eine schmerzhafte Lektion erteilt werden.

Niemand wusste, ob dieser Aufruf zum Generalstreik wirklich den Auftakt zu einer neuen Welle sozialer Unruhen bilden würde. Doch für alle Fälle mobilisierte das französische Innenministerium 80 000 Polizisten. Und um sich nicht länger dem Volkszorn auszusetzen, legte der Ex-Premierminister François Bayrou seine Vertrauensabstimmung vorsichtshalber auf den 8. September, zwei Tage vor der angekündigten «Totalblockade». Seine nicht mehrheitsfähigen Sparpläne sahen Einsparungen in Höhe von rund 44 Milliarden Euro vor. Doch am Montag stürzte Bayrou wie erwartet über die Vertrauensfrage. Und schon am Dienstag ernannte Macron einen Nachfolger, der dem Land nun aufs Neue zu erklären hat, wie es sparen soll: Sébastien Lecornu, den bisherigen Verteidigungsminister.

Neues Feindbild Lecornu

Am Rond-point des vaches, wo an die 300 Gelbwesten zusammengekommen sind, ist deswegen jetzt Lecornu das neue Feindbild. Daivy Cos kennt den neuen Premierminister – den fünften in nur zwei Jahren – nicht wirklich. Er sagt, es sei ihm auch egal, wen Macron als nächste «Marionette» in Paris aufstelle. Und so sieht es auch Alma Dufour. Die 35-jährige ist Abgeordnete der Linksaussenpartei La France insoumise (LFI), Saint-Étienne-du-Rouvray gehört zu ihrem Wahlkreis. Sie habe viele Freunde unter den Gilets jaunes und freue sich über die neue Mobilisierung, sagt sie. Deshalb stehe sie heute hier an der Seite ihrer Genossinnen und Genossen.

Eine Anhängerin der Gilets jaunes aus Rouen zeigt stolz ihre Weste. Eine Anhängerin der Gilets jaunes aus Rouen zeigt stolz ihre Weste.

Daniel Steinvorth

Dufour sagt, sie habe kein Vertrauen in Lecornu, der lediglich die Politik seiner Vorgänger fortsetzen und Frankreich damit noch weiter in den Untergang führen werde. Das Land breche traurige Rekorde, meint sie, noch nie habe es so viel Armut und soziale Ungerechtigkeit gegeben. «Die Franzosen wollen Neuwahlen, und sie wollen, dass Macron zurücktritt. Früher oder später wird das geschehen, aber bestimmt nicht freiwillig. Deswegen werden uns heisse Monate bevorstehen, es wird ein Rock’n’Roll-Jahr.»

Am Kreisverkehr der Kühe – der so heisst, weil hier einst Kühe getrieben wurden, bevor sich die Gegend in eine Industrielandschaft verwandelte – hat ein Lkw-Fahrer die Schnauze voll. Holzpaletten, alte Reifen und Baustellenkegel versperren einen Teil der Fahrbahn. Der Fahrer versucht, die Barrikade zu durchbrechen. Er hupt und verflucht die Demonstranten. Andere Lkw haben die Motoren ausgeschaltet und warten geduldig, steigen aus und rauchen mit den Gelbwesten eine Zigarette. Bald reicht der Stau schon fünf Kilometer zurück. Doch Pkw, die es bis hierher geschafft haben, lassen die Gilets jaunes durch.

Ausgeblutete Region

«Wir haben aus unseren Fehlern gelernt», sagt Olivier Bruneau, ein Sprecher der Bewegung. Diesmal dürfe bei ihren Protesten nicht das einfache Volk Schaden erleiden, sondern «die Wirtschaft, die Bosse». Der 48-jährige Arbeiter zeigt auf die Umgebung: Wo sich heute, in Sichtweite des Kreisverkehrs, ein riesiges Amazon-Verteilzentrum befinde, habe es früher eine Papierfabrik gegeben, sagt Bruneau. Raffinerien und Chemieanlagen seien aus der Gegend ganz verschwunden, eine ganze Region sei ausgeblutet, «während sich einige wenige weiter die Taschen stopfen».

Dass an diesem Tag «ganz Frankreich blockiert wird», lässt sich in Rouen und seiner Umgebung nicht beobachten. Rund 130 Kilometer südöstlich, in Paris, nehmen Sicherheitskräfte bis zum Abend knapp 340 Demonstranten fest, erleiden 13 Polizisten bei Ausschreitungen Verletzungen. Von rund 175 000 Franzosen, die im ganzen Land auf die Strasse gingen, suchten für einmal nur wenige den Krawall. Doch für die nächsten Tage sind weitere Proteste angekündigt. Und für den 18. September haben die Gewerkschaften zu einem neuen Streiktag aufgerufen.

Der Rond-point des vaches in Saint-Étienne-du-Rouvray gehört zu den historischen Brennpunkten der Gelbwesten-Bewegung. Der Rond-point des vaches in Saint-Étienne-du-Rouvray gehört zu den historischen Brennpunkten der Gelbwesten-Bewegung.

Daniel Steinvorth

In Saint-Étienne-du-Rouvray geben die Gelbwesten am frühen Abend die Strasse frei. Männer und Frauen in Kapuzenpullis rollen grosse Traktorreifen von der Strasse. Jemand stimmt die Marseillaise an. Auch Daivy Cos, der junge Konditor, zieht ab, mit einem guten Gefühl, wie er sagt. Er habe viele neue Leute kennengelernt, erzählt er, Studenten, Bahnangestellte, Gewerkschafter, «Menschen von rechts und links». Er spüre, dass sich da ein Druck auf die Regierung aufbaue. «Das war heute erst der Anfang.»