Es ist bereits das fünfte Mal, dass Ursula von der Leyen die Rede zur Lage der Union hält. Dieses Jahr beginnt sie mit dem Aufruf, dass Europa um seine Werte und Freiheit kämpfen müsse. Aber auch um seinen Platz in einer Welt, „in der viele wichtige Mächte Europa gegenüber entweder zwiegespalten sind – oder offen feindselig“.
Die EU-Kommissionspräsidentin fordert einen „Moment der europäischen Unabhängigkeit“. Diesmal spricht sie mehr als eine Stunde und es geht vor allem um Außenpolitik. So müsse die Ukraine weiter unterstützt werden, der Druck auf Russland weiter ausgebaut werden. An einem 19. Sanktionspaket werde gearbeitet und nach neuen Möglichkeiten gesucht, wie eingefrorene russische Vermögenswerte den Ukrainern zur Verfügung gestellt werden können. Vor allem aber geht es in der Rede um die Situation in Gaza. Diese bezeichnete von der Leyen als „inakzeptabel“.
Überraschende Ankündigungen zu Israel
Dies ist auch der Bereich, in dem die Kommissionspräsidentin die konkreteste und überraschendste Ankündigung macht: Die EU-Kommission werde alle bilateralen Zahlungen an Israel einstellen – mit Ausnahme von Geldern für die Zivilgesellschaft und die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Konkret bezifferte ein EU-Kommissionssprecher Gelder aus einem Topf für Internationale Kooperation von 2025 bis 2027 in Höhe von durchschnittlich 6 Millionen Euro pro Jahr und Gelder in Höhe von 14 Millionen Euro für laufende Projekte.
Von der Leyen fordert „neues Europa“
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Auch wolle die EU-Kommission vorschlagen, den Handelsteil des EU-Israel Assoziierungsabkommens auszusetzen und Sanktionen gegen „extremistische“ Minister und „gewalttätige Siedler“ zu verhängen. Die EU ist Israels größter Handelspartner.
Israel kritisierte von der Leyen umgehend. So schrieb der israelische Außenminister Saar bei X (ehemals Twitter), einige der Äußerungen würden die „falsche Propaganda der Hamas und ihrer Partner“ wiederholen. Die Hamas ist eine militant-islamistische Gruppe und wird unter anderem durch die EU und die USA als Terrororganisation eingestuft.
Wie wahrscheinlich sind Sanktionen für Siedler und israelische Minister?
Entscheidungen über Sanktionen und das Assoziierungsabkommen brauchen Mehrheiten unter den Mitgliedstaaten. Dass diese schwer zu finden sein werden, ist auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen klar, wie sie im Parlament deutlich machte.
Denn die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind tief gespalten, was den Umgang mit Israel angeht. Während einige Länder, wie Irland und Spanien, bereits seit Längerem ein härteres gemeinsames Vorgehen fordern, darunter etwa die (Teil-)Suspendierung des EU-Israel Assoziierungsabkommens, stellen sich andere Länder, insbesondere Deutschland, dagegen.
Deutschland ist gegen eine Aussetzung des EU-Israel Assoziierungsabkommens – hier der deutsche Außenminister Johann Wadephul mit Israels Außenminister Gideon Saar in Berlin im Juni 2025 Bild: Florian Gaertner/AA/photothek.de/picture alliance
Viele Parlamentarier begrüßen die Ankündigungen von der Leyens, die in der Vergangenheit für eine zu zögerliche Haltung gegenüber Israel kritisiert wurde. Die Fraktionsvorsitzende der liberalen Renew-Fraktion, Valerie Hayer, verspricht der Kommissionspräsidentin, die Vorschläge zu unterstützen und auch zu weiteren Schritten bereit zu sein. Linken-Fraktionschef Martin Schirdewan sind von der Leyens Vorschläge nach wie vor zu dünn. Er fordert zudem das Ende von Waffenlieferungen und die Aussetzung des Assoziierungsabkommens.
Thu Nguyen, stellvertretende Direktorin des außenpolitischen Thinktanks Jacques Delors Centre, sieht in der Ankündigung von der Leyens auch den Versuch, zu alter Stärke zurückzukehren. So habe die Kommissionspräsidentin beschlossen, soweit möglich auf die Konsensfindung mit den Mitgliedstaaten zu verzichten und bei Themen, die ihr wichtig seien, voranzuschreiten.
„Sommer der Demütigung“ sitzt den Europäern in den Knochen
Der Sommer der US-amerikanischen Russland-Ukraine-Diplomatie, bei der die Europäer weitgehend außen vor waren, und der Handelsdeal mit den USA, der den Europäern in vielen Bereichen 15-prozentige Zölle aufgelegt hat, ist auch in Straßburg noch spürbar. Von der Leyens Position war in den vergangenen Wochen nicht einfach und sie wurde für ihre Verhandlungsführung mit den USA immer wieder gescholten.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Donald Trump bei bilateralen Gespräch im Juli 2025Bild: Daniel Torok/White House/ZUMA/picture alliance
So auch in Straßburg. Dort kritisiert etwa Jordan Bardella, Vorsitzender der Rechtsaußen-Fraktion „Patrioten für Europa“, das von von der Leyen abgeschlossene Abkommen mit den USA, das Europa zu einem „Vasallenstaat“ mache. Kritik an dem Abkommen kommt auch von der sozialdemokratischen Fraktionsführerin Iratxe Garcia Perez: „Einen 15-prozentigen Zoll zu akzeptieren, ohne Vergeltungsmaßnahmen vorzusehen, ist inakzeptabel.“
In ihrer Rede verteidigt von der Leyen das Abkommen: „Wir haben sichergestellt, dass Europa das bestmögliche Abkommen bekommen hat.“ Sie lehne Zölle zwar ab, betont jedoch gleichzeitig, dass das Abkommen in schwierigen geopolitischen Zeiten Stabilität in den EU-US-Beziehungen schaffe.
Europa weiß um seine Bedeutungslosigkeit
Manfred Weber, Vorsitzender der konservativen Europäischen Volkspartei, zu der auch von der Leyen gehört, sagt in der Debatte : „Wir Europäer stehen alleine in einer stürmischen Weltordnung. Niemand auf der Weltbühne hört uns derzeit zu.“ Er sieht die Antwort in mehr Zusammenarbeit in Europa.
Auch von der Leyen beschwört die europäische Geschlossenheit und vor allem die Unabhängigkeit. Es ist das Thema, das sich durch die ganze Rede zieht.
Weites Verständnis von Unabhängigkeit
Europas „Moment der Unabhängigkeit“ umfasst nicht nur verteidigungspolitische Elemente – so will von der Leyen etwa gemeinsame Verteidigungsprojekte und den Ausbau geostrategischer Fähigkeiten – sondern auch wirtschaftliche Abhängigkeiten sollen abgebaut werden. Um dies zu erreichen, solle die EU unter anderem wettbewerbsfähiger werden, Energieabhängigkeiten sollen reduziert werden, neue Handelspartnerschaften geschlossen werden.
Auch innenpolitische Themen will von der Leyen angehen, etwa die hohen Kosten für Wohnraum, Regeln für den Zugang zu sozialen Medien für Kinder oder die Sicherung der Zukunft des Autos in Europa.
Auch wenn die Außen- und Sicherheitspolitik die Rede dominierte – soziale Themen wie hohe Wohnkosten (im Bild die irische Hauptstadt Dublin) kamen ebenfalls zur SpracheBild: Artur Widak/NurPhoto/picture alliance
Thu Nguyen beobachtet, dass in der Rede der Versuch steckt, Differenzen im EU-Parlament zu überbrücken und insbesondere den Parteien, die Ursula von der Leyen unterstützen – also vor allem der EVP, den Sozialdemokraten und der liberalen Renew-Fraktion – etwas anzubieten.
Parlamentarier: Jetzt muss von der Leyen liefern
Die Rede ist bei den meisten Parlamentariern der demokratischen Mitte wohl gut angekommen. So sagt der grüne Co-Fraktionschef Bas Eickhout gegenüber der DW, dass von der Leyen vermittelt habe, dass sie die Dinge ändern wolle, es aber letztlich darauf ankomme, was sie konkret abliefere. Vergangenes Jahr sei man enttäuscht gewesen.
Auch die Europarechtlerin Nguyen quittiert von der Leyen vor allem große Ambitionen und Pathos, jedoch wenig Konkretes. Allerdings, betont sie im Gespräch mit der DW, komme es für eine konkrete Umsetzung der Pläne von der Leyens auch auf die Unterstützung aus den Mitgliedstaaten und dem EU-Parlament an. Und dieses sei – wie die Debatte gezeigt habe – sehr gespalten.