Es klingt so ein bisschen, als wäre der Osten eine Wüste und nur da und dort wäre eine Oase, wo man sich erholen kann. Das weiß auch Frank Richter. Aber andere Worte sind ja tatsächlich schon abgelatscht und im politischen Gerede völlig abgenuddelt. Da fällt es schwer, im Kopf wieder umzuschalten und die nicht mehr ganz so neuen Bundesländer als Orte zu sehen, an denen durchaus auch engagierte, liebens- und friedfertige Menschen wohnen. Es ist auch eine Mission, die Frank Richter mit diesem Buch verfolgt.
Denn es geht auch um die Bilder in unseren Köpfen. Medial vorgestanzte Bilder, die so oft wiederholt werden, dass sie scheinbar die einzige Wahrheit über den Osten sind. Von Richter kurz so beschrieben: „Die Metapher der Oase impliziert das Vorhandensein von Wüste.
Und in der Tat: Manche Region im Osten Deutschlands erscheint öde und leer. Manche ist nachhaltig geprägt von Abwanderung, Überalterung und Vereinsamung. Viele Regionen leiden unter einem ökonomischen und kulturellen Niedergang. In manchen verliert die Demokratie an Akzeptanz, Partizipation und Resilienz.“
Das stimmt. Einerseits. Man kann den Blick die ganze Zeit auf all das fokussieren, was schiefgelaufen ist. Und damit das Bild vom Niedergang verstärken. Von dem am Ende nur eine Partei profitiert: die Angst-Macher-Partei AfD.
Aber Frank Richter hat auch nicht vor, die falschen Jubelgesänge diverser Politiker zu bedienen, die den Osten als Erfolgsmodell schön malen und ihre Landespolitik für das Ideal. Dieses Gewäsch haben die meisten Bewohner der neueren Bundesländer genauso über. Sie sehen ja vor ihrer Haustür, was alles nicht mehr existiert, eingespart und „gesundgeschrumpft“ wurde.
Perspektivverschiebung
Aber trotzdem gibt es die Orte im Osten – und zwar deutlich mehr, als sie in Richters Buch passen -, wo die Menschen sich zusammentun und für ihren Ort, ihre Heimat etwas auf die Beine stellen. Und auch Orte schaffen, an denen man sich wohl und willkommen fühlt. Es ist eine Perspektivverschiebung – weg vom Gejammer hin zu einer Stärke, die Menschen gerade dann brauchen, wenn der Wind rauer wird und „Hilfe von oben“ ausbleibt oder eingespart wird.
Wegen: „Können wir uns nicht leisten.“ Nur sind die Sparmeister überwiegend irgendwo weit weg, waren nie vor Ort und wissen in der Regel auch nicht, was ihre Philosophie der „Schwarzen Null“ mit den abgehängten Regionen eigentlich anrichtet.
Aber Frank Richter ist in diesem Osten nicht nur aufgewachsen, war Bürgerrechtler und Landtagsabgeordneter und ist am liebsten auch im Urlaub in diesem Osten unterwegs. Neugierig auf all die kleinen Flecken auf der Landkarte, an denen Menschen sich zusammentun und faszinierende Projekte aus dem Boden stampfen.
Oder einfach dafür sorgen, dass in ihrem Ort etwas Besonderes entsteht, das sie auch den Reisenden nur zu gern zeigen. Und in der Regel entstehen dadurch Orte der Begegnung und des Gesprächs. Denn das ist das, was in vielen heruntergedimmten Regionen des Ostens fehlt. Es ist auch die um sich greifende Einsamkeit, die Menschen radikalisieren lässt. Weil sie oft gar nicht wissen, warum sie deprimiert und wütend sind.
Die Einsamen sind das Wählerfutter für die rechtsradikale Partei, die im Osten ihre Wahlerfolge feiert.
„Hört endlich zu!“, so betitelte Frank Richter schon 2018 seine kleine Streitschrift, die bei Ullstein erschien. Es hat nur nichts geholfen. Zum Zuhören braucht man den Mut, Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind. Wer tatsächlich mit dem Fahrrad durch diese Landschaften fährt und zuhört, merkt, dass es immer wieder darum geht: Respekt und Anerkennung. Und das Gefühl, tatsächlich gehört und nicht mit politischen Phrasen abgespeist zu werden.
Gemeinsam anpacken
Aber dieses Buch vereinigt 22 Orte im Osten, an denen die auch selbst zu Wort kommenden Akteure es auch selbst angepackt und Plätze geschaffen haben, an denen Begegnung möglich ist. Oft mit enormem privaten und finanziellen Aufwand wie bei der Rettung der Weinbergkirche in Pillnitz, der Buchhandlung von Holger Brandstädt in Ueckermünde, dem Weltladen in Nordhausen oder der Klosterkirche Marienstern in Mühlberg an der Elbe.
Manchmal war es Frank Richter selbst, der den diversen Autoren vorschlug: Fahr doch mal hin. Schau es dir an. Manchmal bekam auch er den Tipp von anderen oder stieß auf der Suche nach einer bezahlbaren Urlaubsunterkunft selbst darauf.
Und jedes Mal entstehen Gespräche, erzählen die Initiatoren all der Projekte, wie sie dazu gekommen sind und welches Anliegen sie von Anfang an verfolgt haben. So wie die Menschen, die das Käthe-Kollwitz-Museum in Moritzburg gerettet haben oder – wie Ulrike Titze – in der Schlosskapelle Moritzburg seit Jahren beliebte Kammerkonzerte geben. Oder wie der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel, der jeden Sommer mit seiner Band in Kamp an der Ostsee zum Konzert einlädt. Oder wie Axel Schmidt-Gödelitz, der das alte Familiengut Gödelitz in der Lommatzscher Pflege zum Austragungsort des Ost-West-Forums gemacht hat.
Immer wieder werden die Ausflüge auch grenzübergreifend – wie mit der Gedenkstätte Stalag VIII A in Zgorzelec oder den Schostakowitsch-Konzerten in Gorisch. Oft steckt auch ambitionierte Erforschung der eigenen Geschichte hinter Projekten wie bei der Erinnerung an Alfred Roßner, den „Oskar Schindler aus Falkenstein im Vogtland“.
Manchmal sind es Theaterleute wie die vom Dresdner Theatekahn, die sich genau vor der Kulisse der Dresdner Altstadt ein Refugium für ambitioniertes Theater geschaffen haben. Oder Engagierte, die im Seitenflügel des Brandenburger Tores, das lange Zeit an der Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin stand, einen Raum der Stille geschaffen haben. So still, dass man die U-Bahn darunter hören kann, wenn sie von Ost nach West rauscht.
Orte zum Begegnen
Und selbst ein düsterer Ort wie die Gedenkstätte ehemaliges Stasi-Gefängnis in Bautzen wird zu einem Ort der Ermutigung, wenn man dort Geschichten von Widerständigkeit erfährt. Hier ist es z. B. Christian Dertinger, der vom Schicksal seines Vaters Georg Dertinger erzählt, dem ersten Außenminister der DDR, der 1953 auf Betreiben Ulbrichts verhaftet, gequält und letztlich in Bautzen eingesperrt wurde.
Auch das ist ostdeutsche Geschichte. Sie stand nicht in den Geschichtsbüchern der DDR. Und auch heute steht sie nicht in den Geschichtsbüchern, weil die DDR immer nur als Anhängsel betrachtet wird. Nicht als ein Land, in dem es – selbst in frühen Regierungen – Beispiele von Widerständigkeit gab. Dertinger war es übrigens, der 1950 das Görlitzer Abkommen mit Polen zur Oder-Neiße-Friedensgrenze für die DDR unterschrieb.
Was man in all den Geschichten spürt, ist die Verantwortung, die die Menschen für ihren Ort übernommen haben. Weil sie ihn wertschätzen und als Ort der Begegnung bewahren wollen – sei es das kleine Hanse-Städtchen Werben an der Elbe, um dessen Ortsbild sich auch aus dem Westen Zugezogene bemühen.
Seien es die besonderen Kirchen wie die St.-Josef-Kirche in Pieschen oder die Marienkirche in Horburg westlich von Leipzig. Jedes Ortsporträt ist im Grunde eine Einladung, sich selbst aufs Rad zu schwingen und hinzufahren, sich Ort und Kirche anzusehen, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen oder eins der jährlichen, oft mit viel Liebe organisierten Feste zu besuchen.
Eines, was so schnell vergessen wird im deutschen Befriedigungs-Diskurs, bringt die Fernsehautorin Antje Schneider auf den Punkt, wenn sie schreibt: „Nicht das Beginnen wird belohnt, sondern das Durchhalten.“
Genau das, was so sehr der hektischen deutschen Gegenwart widerspricht, in der Wahlen behandelt werden, als wären sie der große Einkauf vor Weihnachten. Alle Bedürfnisse und Wünsche sollen sofort erfüllt werden. Und wenn nicht, wird die jeweilige Regierung in Grund und Boden verwünscht.
Selber Schuld, könnte man sagen. Denn tatsächlich fehlt dieses Denken und Handeln über den nächsten Wahltermin hinaus in fast allen Parteien. Jede Wahl lebt von der falschen Illusion, dass alle Probleme gleich in den ersten 100 Tagen nach der Wahl erfüllt werden können.
Doch die Beispiele, die Frank Richter hier erzählt, berichten von Menschen, die oft Jahre ihres Lebens in ein ihnen wichtiges Projekt gesteckt haben, die sich auch von ausbleibenden Besuchern nicht entmutigen lassen, sondern ihre Vision weiterverfolgen. Solange, bis immer mehr Gleichgesinnte andocken und dabei helfen, die Idee auf Dauer tragfähig zu machen.
Unterschätzte Menschen, unterschätzte Zeit
Solche Visionen werden aus dem Osten Deutschlands viel zu selten berichtet. Über Niedergang und Radikalisierung lässt sich ja viel schöner in der Hauptsendezeit berichten. Nur dass man dabei eben nur über Symptome berichtet, nicht über Ursachen und schon gar nicht die Gründe, warum so viele Menschen haltlos geworden sind. Denn Geduld und Durchhaltevermögen sind ja nicht die Tugenden, die man den hier Wohnenden gern zuschreibt.
Aber die haben sie. Und es wäre sehr klug gewesen, genau diese Tugenden in den 1990 Jahren anzusprechen, als es allen gar nicht schnell genug gehen konnte, den Osten zur „blühenden Landschaft“ zu machen. Nur die Menschen hat man dabei vergessen. Und den Faktor Zeit völlig unterschätzt. Ganz zu schweigen von der Fähigkeit all der transformierten Menschen, für ihre eigene Zukunft und ihre eigene Region mehr Verantwortung übertragen zu bekommen, ihre Zukunft selbst zu gestalten.
Auch daher kommt das Gefühl der Entmündigung, das bis heute überall rumort. Und ganz offensichtlich auch viele Menschen davon abhält, die Dinge vor Ort selbst in Bewegung zu bringen, Orte der Begegnung und des Gesprächs zu schaffen. Und gemeinsam anzupacken, Dinge wieder in Gang zu setzen. Es gibt diese Orte, wo es die Menschen tun. Deutlich mehr als die 22, die Frank Richter und die von ihm eingeladenen Autorinnen und Autoren hier vorstellen.
Aber genau durch dieses Beispielhafte zeigt Frank Richter, dass man seinen Blick auf all diese „Wüsten“ im Osten ändern kann. Und dass auch die Bewohner dieser Landschaften ihren Blick ändern können. Das Gemeinsame suchen können, statt immer nur das Trennende. Wahrscheinlich würden sie fast alle überrascht sein, wie viel Gastlichkeit es in diesen Landschaften geben kann, wenn man nur bereit ist, die Türen zu öffnen und das Gespräch miteinander zu suchen.
Vor Ort, da, wo man wohnt. Da, wo man selbst eine Bereicherung erlebt, wenn man mit Gleichgesinnten wieder etwas zurückgewinnt für das kleine Gemeinwesen, in dem man eigentlich zu Hause sein möchte.
Frank Richter „Oasen im Osten. Entdeckungen in den neuen Ländern“ St. Benno Verlag, Leipzig 2025, 16,95 Euro.