Seit Mitte März 2025 fliegt Israel wieder schwere Luftangriffe auf den Gazastreifen – die seit Januar anhaltende Waffenruhe wird nicht verlängert. Zu diesem Zeitpunkt sollen Zehntausende Vertriebene aus dem Süden wieder in den Norden des weitgehend zerstörten Küstenstreifens zurückgekehrt sein.

Israels Premier Benjamin Netanjahu erklärt im April, die Armee werde im Gazastreifen nun „einen Gang höher schalten“. Rasch nimmt das Militär weitere Gebiete ein und lässt immer neue Zonen evakuieren. Außerdem bestätigt Verteidigungsminister Israel Katz: Israelische Soldaten sollen dauerhaft im Gazastreifen stationiert bleiben.

Seit Mai bereitet sich Israels Armee darauf vor, die „operative Kontrolle“ über Teile Gazas zu übernehmen. Dazu gehört auch: die Vertreibung der Bevölkerung, verharmlost als „freiwilliger Transfer“. Für elf Wochen blockiert Israel alle Hilfslieferungen, ab Ende Mai übernimmt die umstrittene Gaza-Stiftung GHF die Verteilung. Die Zentren dafür werden nur im Süden gebaut, und die Hilfe reicht kaum aus. Ab Juni mehren sich Berichte über israelische Soldaten, die auf Wartende schießen.

Zwischen 800.000 und einer Million der rund zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens sollen sich aktuell in Gaza-Stadt aufhalten. Die größte Stadt des palästinensischen Küstengebiets ist einer der letzten Orte, an denen die teils mehrfach Vertriebenen Zuflucht finden. Nach 22 Monaten Krieg kontrolliert Israels Armee mittlerweile mindestens drei Viertel des Gazastreifens. Jetzt soll sie auch Gaza-Stadt einnehmen.

Über Wochen rückt Israels Armee immer näher an Gaza-Stadt heran. Am 2. September beruft die Armee 60.000 zusätzliche Reservisten für die geplante Offensive ein. Verteidigungsminister Katz richtet schließlich eine „letzte Warnung“ an die Hamas: „Lasst die Geiseln frei und legt eure Waffen nieder – oder Gaza wird zerstört und ihr werdet vernichtet.“

Am Dienstagmorgen warfen Armeeflugzeuge Hunderttausende Zettel über Gaza-Stadt ab. Die Menschen im gesamten Gazastreifen fürchten diesen Moment, wenn Israels Streitkräfte dazu aufrufen, das Gebiet zu verlassen. Die meisten erleben das nicht zum ersten Mal. Zu ihrer eigenen Sicherheit sollten sie sich nach Al-Mawasi in den Süden begeben, hieß es nun für die Bewohner und alle, die dort Schutz gesucht haben. Auf den Blättern waren auch angeblich sichere Orte angegeben; in Gaza-Stadt soll sofort Panik ausgebrochen sein. „Familien warfen Koffer und Decken von den Balkonen, Kinder klammerten sich an Spielzeug, und Nachbarn warnten, dass israelische Kampfflugzeuge näherkamen“, berichtet die Zeitung Ha’aretz.

Aktuell befinden sich bis zu eine Million Menschen in Gaza-Stadt, viele davon wurden bereits mehrfach vertrieben. Seit Israels Sicherheitskabinett im Juli die Einnahme der Stadt beschlossen hat, arbeiten sich die Bodentruppen langsam heran, erste Evakuierungsaufrufe für einzelne Viertel wurden schon früh verteilt. Bereits vergangene Woche wollte die Armee 40 Prozent von Gaza-Stadt eingenommen und sichere Zufluchtsorte im Süden geschaffen haben. Man habe „damit begonnen, Zelte aufzustellen, Vorbereitungen für Hilfsgüterverteilungszentren zu treffen, eine Wasserleitung zu verlegen und vieles mehr“, sagte dazu der arabischsprachige Sprecher der israelischen Armee, Avichay Adraee.

Über Gaza-Stadt lässt die israelische Armee Flugblätter regnen: Alle sollen die Stadt verlassen. © Omar Al-Qattaa/​AFP/​Getty Images

Tatsächlich verbreitet Israels Armee Karten, auf denen angeblich sichere Evakuierungszonen eingetragen sind. Diese Karten offenbaren aber zum einen das völkerrechtliche Problem der Fluchtaufrufe und zeigen zum anderen die ganz praktischen Schwachstellen. So liegen die eingezeichneten Orte zwischen Chan Junis und Rafah – und damit genau dort, wo der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich die Palästinenser in Gaza „konzentrieren“ will. Innerhalb eines halben Jahres solle demnach „die Bevölkerung auf einen schmalen Streifen Land beschränkt und der Rest der Enklave völlig zerstört werden“, sagte Smotrich während einer Siedlerkonferenz im Mai. Al-Mawasi, der Küstenort, an den die Menschen aus Gaza-Stadt nun fliehen sollen, liegt genau in diesem schmalen Streifen Land.

Entsprechend fürchten viele Menschen in Gaza-Stadt, dass eine Flucht ihnen keine Sicherheit bringen, sondern nur noch mehr Risiken bedeuten könnte. Bereits vergangene Woche kündigten deshalb das griechisch-orthodoxe Patriarchat und das lateinische Patriarchat von Jerusalem an, dass ihre noch verbliebenen Geistlichen und Nonnen in Gaza-Stadt den Vertreibungsaufrufen nicht folgen würden. „Seit Ausbruch des Kriegs sind die griechisch-orthodoxe Anlage des Heiligen Porphyrius und die Anlage der Heiligen Familie Zufluchtsorte für Hunderte von Zivilisten“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung. „Aus diesem Grund haben die Geistlichen und Nonnen beschlossen, zu bleiben und sich weiterhin um alle zu kümmern, die sich in den Anlagen aufhalten.“

Damit zum praktischen Problem: Israelische Sicherheitsexperten warnen vor einem Szenario, in dem sich die Menschen den Aufrufen schlicht verweigern. „Wenn nur fünf Prozent der Einwohner sich weigern, ihre Häuser zu verlassen, was macht die IDF (die israelische Armee) dann?“,  fragte Michael Milshtein, Leiter der Palästinenserstudien an der Universität Tel Aviv und ehemaliger Militärgeheimdienstmitarbeiter, in der Washington Post vergangene Woche. „Wir werden feststellen, dass zwischen unseren schönen Plänen und der Realität eine dramatische Kluft besteht.“

Nuseirat im zentralen Gazastreifen: Während Israel seine Angriffe auf Gaza-Stadt verstärkt, versuchen Menschen, in den Süden zu gelangen. © Eyad Baba/​AFP/​Getty Images

Wie die Washington Post ebenfalls berichtet, soll auch die Hamas die Menschen zu zwingen versuchen, in Gaza-Stadt zu bleiben. Demnach sollten die Bewohner „den Drohungen und Einschüchterungen der Besatzungsmacht nicht nachgeben“, heißt es in dem Bericht. Israels rechtsextremer Finanzminister Smotrich soll derweil gedroht haben, dass alle, die sich den Vertreibungsaufrufen widersetzten, ausgehungert würden. „Kein Wasser, kein Strom, sie können verhungern oder sich ergeben. Das ist es, was wir wollen“, zitiert der Fernsehsender Channel 12 Smotrich während eines Koalitionstreffens vergangene Woche.