Dem 14-jährigen Sascha aus dem ukrainischen Mariupol standen die Tränen in den Augen, als die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am Mittwoch im EU-Parlament in Straßburg seine Geschichte erzählte.

Als Russland im Jahr 2022 seine Heimat angriff, war Sascha erst elf Jahre alt. Nach der Erstürmung Mariupols brachten russische Soldaten ihn und seine Mutter in ein russisches  „Filtrationslager“. In diesen Lagern, die Russland in den von ihm besetzten Gebieten eingerichtet hat, werden Ukrainer vor ihrer Ausreise nach Russland einer ideologischen Überprüfung unterzogen.

Dort wurde Sascha von seiner Mutter getrennt und in das besetzte Donezk gebracht. Auf dem Weg gelang es ihm, seine Großmutter Ljudmyla anzurufen, die in einem von Kyjiw kontrollierten Gebiet lebt. Sie holte Sascha zurück. Das Schicksal seiner Mutter ist bis heute unbekannt.

Der 14-jährige Ukrainer Sascha und seine Großmutter (links) im EU-Parlament in StraßburgDer 14-jährige Ukrainer Sascha und seine Großmutter Ljudmyla (links) im EU-Parlament in StraßburgBild: EP/European Union 2025

Sascha und seine Großmutter Ljudmyla waren Ehrengäste bei der Rede der EU-Kommissionspräsidentin zur Lage der Union. In ihrer Ansprache betonte von der Leyen, dass Saschas Geschichte kein Einzelfall sei.

Russland leugnet die Verschleppung ukrainischer Kinder

Sascha ist eines von wohl Zehntausenden Kindern, die seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine von russischen Behörden aus ihrer Heimat verschleppt und entweder in Waisenhäuser gebracht oder an Adoptivfamilien in Russland übergeben wurden.

Das Schicksal ukrainischer Kinder, die Russland aus den von ihm besetzten Gebieten der Ukraine verschleppt hat, rückte im Sommer in den Mittelpunkt der Friedensgespräche. Kyjiw verlangt als Voraussetzung für ein künftiges Abkommen zur Beendigung des Krieges mit Moskau die Rückführung Tausender deportierter Minderjähriger.

Der Kreml leugnet jedoch die Verschleppung. „Die Ukraine inszeniert eine Show zum Thema ‚Kindesentführung‘. Es gibt keine entführten Kinder, es sind Kinder, die von unseren Soldaten gerettet wurden“, erklärte der russische Chefunterhändler Wladimir Medinski im Juni.

Doch der Druck auf Russland steigt. 42 Länder, der Europarat und die Europäische Union forderten im August in einer gemeinsamen Erklärung Russland auf, die Kinder zurückzugeben, Informationen über ihren Aufenthaltsort bereitzustellen und aufzuhören, die Identität der Kinder zu ändern. Dem haben sich auch US-Senatoren und Melania Trump, die Frau von US-Präsident Donald Trump, angeschlossen.

Ukraine hält die Liste der Kinder geheim

Es bedurfte monatelanger Lobbyarbeit, damit die Rückführung der Kinder in der obersten Führungsebene der USA zum Thema wurde, berichtete das Wall Street Journal im August. Im April 2025 richteten 40 führende Kirchenvertreter einen Appell an Präsident Donald Trump und Außenminister Marco Rubio und forderten, der Rückkehr ukrainischer Kinder Priorität einzuräumen. Im Juni legten Republikaner und Demokraten gemeinsam dem Senat einen Gesetzentwurf vor, der für Kyjiw technische Hilfe bei der Rückführung von Kindern vorsieht.

Darin ist die Rede von „fast 20.000“ Verschleppten. Die Zahl richtet sich nach den Angaben der ukrainischen Behörden, denen zufolge 19.546 Kinder nach Russland gebracht worden sein sollen. Sie alle sind, wie die Initiative der ukrainischen Regierung „Bring Kids Back“ betont, namentlich bekannt.

Ob diese Liste stimmt, lässt sich dennoch schwer überprüfen, da Kyjiw sie geheim hält. „Es geht nicht nur um die persönlichen Daten von Minderjährigen, die in Not sind, sondern auch um ihre Sicherheit. Sie können mögliche Zeugen von Kriegsverbrechen sein und könnten daher von Russland absichtlich versteckt werden“, sagt der DW Myroslawa Chartschenko, Juristin der NGO Save Ukraine, die sich für die Rückführung von Kindern stark engagiert.

Welche Zahlen sind verlässlich?

Die russischen Behörden haben wiederholt erklärt, die Liste mit 19.546 Kindern sei „gefälscht“. Die russische Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa sagte jüngst in einem Interview, die Liste basiere auf Zahlen aus Berichten über den Verlust von Kontakt zu Kindern seit Beginn der großangelegten russischen Invasion der Ukraine.

Die russische Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa sitzt im Juli 2022 auf einem Sofa mit Kindern während eines Besuchs in der Region DonezkDie russische Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa im Juli 2022 zu Besuch bei Kindern in der Region DonezkBild: Pavel Lisitsyn/SNA/IMAGO

Sogar einige Mitglieder der Initiative „Bring Kids Back“ bezweifeln die Liste – allerdings inoffiziell. „Sie basiert wahrscheinlich zum Teil auf Listen aus Internaten in den besetzten Gebieten und zum Teil auf Recherchen aus offenen Quellen und sozialen Netzwerken. Einige der Kinder könnten mit ihren Eltern nach Russland übergesiedelt sein, einige von ihnen sind inzwischen nach Europa gezogen“, sagt ein Vertreter einer internationalen Organisation, der wegen deren neutralem Status anonym bleiben möchte, gegenüber der DW.

Da die Kinder aus den besetzten Gebieten auf unterschiedliche Weise nach Russland geraten sind, lässt sich nur schwer eine einheitliche Liste erstellen. Die ersten Fälle verzeichneten die ukrainischen Behörden bereits 2014. Damals wurden Kinder aus Internaten der selbsternannten „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ im Donbass in russische Erholungslager gebracht. Und kurz vor der umfassenden russischen Invasion forderten die „Volksrepubliken“ Moskau auf, alle Waisenhäuser zu evakuieren. Dabei ging es um rund 500 Kinder, die mit der Zeit über ganz Russland verstreut wurden.

Später kamen weitere Minderjährige hinzu – beispielsweise Tausende aus der zerstörten Stadt Mariupol. Einige dieser Kinder wurden in den von Russland organisierten „Filtrationslager“ von ihren Eltern getrennt – wie Sascha, der im EU-Parlament zu Gast war.

Nach Angaben ukrainischer Behörden waren im Frühjahr 2023 4390 Waisen und Kinder ohne elterliche Fürsorge in speziellen Heimen auf den Gebieten unter russischer Kontrolle. Ungefähr genauso viele waren in familienähnlichen Waisenhäusern untergebracht, sagt Myroslawa Chartschenko von Save Ukraine und betont, dass für diese Kinder rechtlich gesehen der ukrainische Staat verantwortlich sei.

Vereinfachte Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft 

Im Mai 2022, lange vor der formellen Annexion von vier Regionen der Ukraine, ließ der russische Präsident Wladimir Putin die Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft für Waisenkinder aus diesen Regionen vereinfachen. Die Zustimmung der leiblichen Eltern oder Erziehungsberechtigten aus der Ukraine ist demnach nicht erforderlich. Dies wurde teils mit humanitären Erwägungen begründet, wonach die russische Staatsbürgerschaft Sozialleistungen, medizinische Versorgung und Bildung ermöglicht.

Zudem habe Putin angeordnet, ukrainische Kinder, die keine Erziehungsberechtigten haben, in russischen Pflegefamilien unterzubringen, erklärte Marija Lwowa-Belowa in einem Interview.

Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa sitzen einander gegenüber an einem Tisch im KremlDer Internationale Strafgerichtshof macht Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa für die Deportationen von Kindern verantwortlichBild: Mikhail Klimentyev/Sputnik Moscow/imago images

Journalisten und Forscher gehen auf Basis offen zugänglicher Quellen davon aus, dass deutlich mehr ukrainische Kinder russischen Familien übergeben wurden. Die ukrainische Regierung und die Strafverfolgungsbehörden stufen diese Politik als Kriegsverbrechen und Genozid am ukrainischen Volk ein. Im Frühjahr 2023 schloss sich der Internationale Strafgerichtshof dieser Einschätzung teilweise an und erließ Haftbefehl gegen Wladimir Putin und Lwowa-Belowa – wegen mutmaßlicher Verstöße gegen die Regeln der Kriegführung und der Deportation von Kindern aus dem Donbass.

Wie realistisch ist die Rückführung der Kinder?

Auch wenn Russland die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes nicht anerkennt und alle Vorwürfe zurückweist, hat es dennoch auf den Haftbefehl gegen Putin und Lwowa-Belowa reagiert. Im Jahr 2023 hörte Moskau auf, massenweise ukrainische Kinder in Obhut zu übergeben, zumindest öffentlich. Stattdessen berichtete die Kinderbeauftragte immer öfter, eine Rückkehr ukrainischer Kinder in ihre Heimat zu fördern – allerdings nur unter der Bedingung, dass die Kinder persönlich an Blutsverwandte übergeben werden: an Eltern, wenn sie wieder ein Sorgerecht haben, an Brüder, Schwestern, Tanten und Onkel oder Großmütter und Großväter. „Immer häufiger wird dafür ein DNA-Test verlangt“, sagt Myroslawa Chartschenko von Save Ukraine.

Ihrer Organisation ist es jüngst gelungen, monatlich 60 bis 70 Kinder in die Ukraine zurückzuholen. Dazu brauchen die Angehörigen zunächst die Vormundschaft nach ukrainischem Recht und müssen anschließend nach Russland reisen, wo sie dieses bürokratische Verfahren erneut durchlaufen müssen. „Das russische Recht ist bei der Adoption von Kindern durch Ausländer recht streng – und die deportierten Kinder haben alle bereits die russische Staatsbürgerschaft erhalten“, erläutert Chartschenko. Nach Angaben der Initiative Bring Kids Back wurden in den letzten drei Jahren 1603 Kinder in die Ukraine zurückgeholt, meist einzeln.

Die ukrainischen Statistiken zu den deportierten Kindern sind nach wie vor unvollständig, meint Kateryna Raschewska, Juristin des Regionalen Zentrums für Menschenrechte, einer weiteren NGO, die sich mit der Suche und Rückführung ukrainischer Kinder befasst. „Wir sehen nur Zahlen, ohne Unterscheidung nach Alter oder Geschlecht. Ich kann nicht sagen, wie viele Kinder bereits volljährig sind und aufgrund von Entführung oder Verschleppung auf russischem Territorium gelandet sind“, erklärte sie kürzlich vor Journalisten.

Internationale Forscher sind bei der Suche nach ukrainischen Kindern etwas erfolgreicher. So gelang es beispielsweise dem Programm des Humanitarian Research Lab der Yale University bis März dieses Jahres, 8400 Kinder aus der Ukraine in Russland zu identifizieren und ausfindig zu machen. Anfang des Jahres hatte die US-Administration von Donald Trump dieses Programm aufgrund massiver Budgetkürzungen beinahe eingestellt. Die Wiederaufnahme der Finanzierung in diesem Sommer ist eines der Hauptergebnisse der ukrainischen Lobbyarbeit in den USA.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk