Es war am vergangenen Sonntag, dem 7. September 2025. Der Leipziger Synagogalchor hatte ins Museum der Bildenden Künste zu einem Festkonzert „Erhebt euch, ewige Tore! Zwei Synagogenweihen in Leipzig“ eingeladen. Hintergrund des Konzertes waren die Einweihung der Großen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße am 10. September 1855 und die Wiederindienstnahme der Brodyer Synagoge in der Keilstraße am 28. Oktober 1945.

An dem Konzert nahmen ca. 250 Menschen teil. Neben dem Synagogalchor wirkten amarcord, emBRASSment, Anja Pöche und Clemens Posselt mit. Die musikalische Leitung hatte Philipp Goldmann. Gesungen wurden u.a. Kompositionen von Felix Mendelssohn Bartholdy, Samuel Jadassohn und Louis Lewandowski, die auch vor 170 Jahren erklangen. Zwischen den Musikstücken gab es Lesungen, Redebeiträge und eine Computersimulation der Großen Gemeindesynagoge. Sie wurde in der Reichspogromnacht 1938 zerstört.

Was war nun das Besondere an diesem Konzert, das der Printausgabe der Leipziger Volkszeitung (LVZ) keine Zeile wert war? Zum einen war es dank der herausragenden Leistung der Sänger/-innen, der Instrumentalisten und eines famos dirigierenden Philipp Goldmann ein musikalisches Highlight.

Synagogalchor. Foto: Lucas BöhmeLeipziger Synagogalchor (hier im Juni 2025). Foto: Lucas Böhme

Zum andern wurde an zwei Gotteshäuser erinnert, welche von den Nazis, d.h. von Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Leipzig, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 dem Erdboden gleichgemacht bzw. auf schändliche Weise entweiht wurden.

Gleichzeitig wurden jüdische Bürgerinnen und Bürger, wie schon in den Jahren zuvor, drangsaliert, in Konzentrationslager verschleppt, ermordet. Wenige Jahre später setzte mit dem Holocaust die systematische, industriell betriebene Vernichtung des jüdischen Lebens in Europa ein. 2001 entstand auf dem Grundstück der Großen Gemeindesynagoge eine eindrucksvolle Gedenkstätte.

Das Konzert ermöglichte einen Rückblick auf die verhängnisvolle Geschichte der Menschen jüdischen Glaubens in Leipzig der besonderen Art. Denn in der Gegenüberstellung der wunderbaren Kompositionen mit den grauenhaften Folgen einer tief verwurzelten Judenfeindschaft, die den Holocaust ermöglichte, wurde deutlich: Solche Verbrechen sind nur möglich, wenn Menschen wegsehen, mitmachen, lang gehegte Vorurteile tradieren und kulturell wie moralisch verwüsten.

1855 war die Einweihung des jüdischen Gotteshauses in der Gottschedstraße ein großes Ereignis für die Stadt Leipzig. Noch schien der Aufbruchsgeist der bürgerlichen Revolution von 1848 zu wirken. Doch wurde die Freude über die Vielfalt des religiösen Lebens nicht von allen Gruppen der Stadtgesellschaft geteilt. So fehlten Vertreter der evangelisch-lutherischen und der katholischen Kirche bei der Einweihung der Synagoge. Den Presseberichten ist zu entnehmen, dass lediglich reformierte, deutschkatholische und griechische Geistliche an der Einweihung teilnahmen.

Zu tief war der militante Antisemitismus gerade auch in den offiziellen Kirchen verankert. Schon 1850 erschien Richard Wagners antisemitische Hetzschrift „Das Judenthum in der Musik“, und 1889 fiel das im Zuge der neugotischen Umgestaltung der Thomaskirche vorgesehene Fenster für Felix Mendelssohn Bartholdy antisemitischen Einsprüchen zum Opfer (erst 1997 konnte die Schmach und Schande beseitigt werden). Das waren nur zwei der ideologischen Steine, auf denen die Judenfeindschaft der Nazis aufbauen und durch die die „nationalsozialistische Verhetzung“ sich zum monströsen Menschheitsverbrechen, dem Holocaust, entwickeln konnten.

Bei der Weihe der Brodyer Synagoge in der Keilstraße im Oktober 1945 führte der damalige Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinde Richard Frank aus:

Wir können uns keiner Täuschung hingeben, dass dieser Geist (gemeint ist der Rassenhass, Nationalismus, Völkerunterdrückung, Vernichtungswillen der Nazis) noch längst nicht überwunden ist. Niemand kann in Zukunft die jetzt so oft gehörte und beliebte billige Entschuldigung gebrauchen, dass er von all den schlimmen Geschehnissen nichts gewusst habe, denn klar und offen liegt jetzt alles zu Tage.

Und trotzdem kann man beobachten, dass das Gift der nationalsocialistischen Verhetzung so tief in den deutschen Volkskörper eingedrungen ist, dass sicher noch viele Jahre vergehen werden, bevor es wieder ausgeschieden sein wird. Dass ein raub- und mordgieriger Untermensch, der sich selbst überheblich den Titel eines Führers anmaßte, die Geschicke Deutschlands regeln konnte, ist wohl das größte Unglück, das Deutschland in seiner Geschichte betroffen hat.

Dass er im deutschen Volke hunderttausende von Helfershelfern finden konnte, die ihm nicht nur willig, sondern in unverständlichem Sadismus sogar teilweise freudig als Henkersknechte dienten, ihn sogar zu übertreffen suchten, ist vielleicht noch trauriger.

Am Ende seiner Rede rief Frank aus:

Heute erkennt ein jeder, der nicht absichtlich die Augen verschließt, wohin die faschistische Ideologie führt.

Ob wir das heute auch noch mit dieser Gewissheit sagen können? Angesichts einer Partei wie die AfD, die bewusst an die Ideologie des Nationalsozialismus dadurch anzuknüpfen versucht, den Nazi-Terror zum „Vogelschiss der Geschichte“ zu erklären und die Erinnerungskultur als „Schuldkult“ diffamiert, sind Zweifel mehr als angebracht! Denn die Rechtsnationalisten heute betreiben genauso wie die Nazis und wie ein Donald Trump oder Viktor Orbán bewusst und gezielt die Umwertung aller Werte.

Sie erklären systematisch die Lüge zur Wahrheit, und die Annäherung an die Wahrheit wird als Lüge verfolgt. Das Recht wird ausgehebelt durch die Legitimation des Unrechts. Leider sind wir im öffentlichen Diskurs jetzt schon in eine Situation geraten, in der die militante Umkehrungsstrategie der Neu-Faschisten die Wahrheitsfindung erschwert bis verunmöglicht – mit der fatalen Folge, dass jedem ideologischen Verfeindungsfeldzug Tür und Tor geöffnet sind.

Höchste Wachsamkeit ist gefordert genauso wie kulturelle, moralische und politische Geistesgegenwart. Dazu hat das Konzert des Synagogalchors und seine Einbettung in die eindrucksvollen Texte einen großartigen Beitrag geleistet – gleichzeitig aber auch offenbart, was bei uns schon alles in Schieflage geraten ist.

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Notwendiger Nachtrag: Während ich diesen Beitrag geschrieben habe, kam die Meldung, dass die Münchner Philharmoniker und ihr zukünftiger Chefdirigent Lahav Shani, ein gebürtiger Israeli, von der Leitung des Flanders Festival Gent ausgeladen wurden. Als Grund wird angegeben: „Im Lichte seiner Rolle als Chefdirigent des Israel Philharmonic Orchestras sind wir nicht in der Lage, für die nötige Klarheit über seine Haltung dem genozidalen Regime in Tel Aviv gegenüber zu sorgen.“

 Weiter heißt es: „Wir haben uns entschieden, die Ruhe unseres Festivals zu wahren und das Konzerterlebnis für Besucher und Musiker zu schützen.“ Wie bitte? Seit wann soll ein Musikfestival zur „Ruhe“ beitragen und seit wann wird ein Konzerterlebnis „geschützt“, wenn man die Musiker/-innen auslädt, die für dieses Erlebnis sorgen sollen? Zu einer solch abstrusen Begründung einer skandalösen Entscheidung kann man nur kommen, wenn man verblendet ist von antisemitischen Vorurteilen.

Ich gehöre zu den Menschen, die die Politik der rechtsradikal-autokratischen Netanjahu-Regierung nicht nur für verhängnisvoll, sondern die Kriegführung dieser Regierung im Gaza für völkerrechtswidrig halten. Durch sie wird der (Hamas-)Terrorismus nicht überwunden, sondern gefüttert. Das aber hindert mich nicht nur daran, sondern bestärkt mich darin, das Existenzrecht des Staates Israel zu verteidigen, jeder Form des Antisemitismus entgegenzutreten und mich für das jüdische Leben in der Stadtgesellschaft einzusetzen.

Darum müssen jeder europäisch gesinnte Demokrat und jede europäisch gesinnte Demokratin der Entscheidung der Festivalleitung in Gent klar und unmissverständlich entgegentreten. Denn das ist Antisemitismus pur: die Übertragung von Urteilen und Typisierungen auf Einzelpersonen und Gruppen aufgrund ihrer Herkunft und religiösen Überzeugung – unabhängig von ihren persönlichen Meinungen.

Christian Wolff, geboren am 14. November 1949 in Düsseldorf, war 1992–2014 Pfarrer der Thomaskirche zu Leipzig. Seit 2014 ist Wolff, langjähriges SPD-Mitglied, als Blogger und Berater für Kirche, Kultur und Politik aktiv. Er lebt in Leipzig und ist gesellschaftspolitisch in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens engagiert. Zum Blog des Autors: https://wolff-christian.de/