Es gibt Meisterschaften in Sparten, die einem nicht als erstes einfallen, wenn man an Wettbewerbe denkt. Yusuke Matsumura repräsentiert ein solches Beispiel. Er ist amtierender Weltmeister im Kunstpfeifen, gewann den Titel am 1. Juni 2024 bei der „World Whistlers Convention“ in Kawasaki, Japan. Seine weltweite Bekanntheit verdankt er jedoch auch einem Straßenkonzert in Leipzig. Und einer Netflix-Fernsehserie. Die Leipziger Zeitung hat ihn getroffen.
In der Turmlaterne der Thomaskirche läutet die Stundenglocke zehn Mal. Die Freisitze der Kaffee-Häuser liegen noch im Schatten. Doch langsam erhebt sich die Sonne über die Dächer der Gebäude und taucht die Linde neben dem Bach-Denkmal in sommerliches Licht.
Ein Engel für Bach
Über den Thomaskirchhof schlendern Touristen, an den Bistro-Tischen werden die ersten Tassen Kaffee serviert, als plötzlich, die Redewendung könnte passender nicht sein, wie aus heiterem Himmel Musik erklingt. Töne, so glasklar, als säße ein Engel in der Baumkrone, um dem alten Thomaskantor mit zauberhaftem Flötenspiel die Ehre zu erweisen.
Doch die Töne stammen nicht von himmlischen Wesen. Vor der wuchtigen Statue Johann Sebastian Bachs steht ganz irdisch und unscheinbar ein junger Mann, einfach gekleidet. Schwarze Strubbelhaarfrisur, schwarzes Hemd, ein graues Hemd darüber, blaue Jeans. Es ist Yusuke Matsumura, 1992 in Tokio geboren und aufgewachsen, nach Deutschland gezogen, um ab 2017 in Heidelberg Musik und Gesang zu studieren.
„Jesus bleibet meine Freude“ – vor mehr als 300 Jahren von Bach als Choral für die Kantate „Herz und Mund und Tat und Leben“ (BWV 147) geschrieben. In der Leipziger Vormittagssonne als spontanes Ständchen gepfiffen, von einem Japaner, der ursprünglich das Tuba-Spiel erlernen musste. Er war der Größte in seiner Klasse und das Instrument wurde für das Schulorchester gebraucht.
Johann Sebastian Bach schrieb 1723 den Choral „Jesus bleibet meine Freude“. Foto: Benjamin Weinkauf
Haydn, Netflix und die Petersstraße
Nach seinem Studium in Heidelberg singt Yusuke Matsumura am Theater Plauen-Zwickau vor, wird engagiert und ist bis zum diesjährigen Spielzeitende als Bass-Sänger im Opernchor Ensemblemitglied. Doch so sehr ihm die Arbeit in Zwickau am Herzen liegt – die japanische Community ist in der Geburtsstadt von Robert Schumann überschaubar klein. Der Austausch mit Landsleuten ist dem Künstler aber wichtig. In Leipzig lebten 2023 über 280 Japaner, was die Stadt für Matsumura interessant und zu einem häufigen Reiseziel macht.
Neben dem Beruf auf der Bühne liebt es der junge Mann, auf der Straße zu musizieren. Bei einem ersten kleinen Auftritt erpfeift er sich in 30 Minuten 15 Euro. Wenig später sind es 50 in der Stunde. Sein Talent überzeugt die Passanten, manche sind so bewegt von seinem Können, dass ihnen vor Rührung Tränen über die Wangen rollen.
Im Gespräch mit Yusuke Matsumura. Foto: Jan Kaefer
Auf der Social-Media-Plattform Instagram betreibt Matsumura einen eigenen Kanal. Wenige Nutzer folgten ihm dort. Bis zu diesem Tag im Februar 2024. In der Petersstraße hat er seinen kleinen Lautsprecher aufgebaut, der ihm die Begleitmusik für sein Pfeifen spielt. Es sind vor allem junge Leute, die stutzen und stehen bleiben. Zwar sind die wenigsten von ihnen Fans von Joseph Haydn. Doch die Musik, die zwischen Zara und McDonalds erklingt, kommt ihnen vertraut vor. Es ist der 3. Satz von Haydns Trompetenkonzerts in Es-Dur.
In der erfolgreichen Netflix-Serie „Squid Games“ ist er das morgendliche Wecksignal für die Spieler. Die erste Staffel erreichte in den ersten drei Monaten 265,2 Millionen Zuschauer. Yusuke Matsumura nimmt den Auftritt in Leipzig mit dem Handy auf, veröffentlicht ihn auf seinem Instagram-Profil.
Über Nacht werden aus dreihundert Followern 13.000. Bis zu unserem Treffen auf dem Thomaskirchhof hinterließen mehr als 120.000 Nutzer der Internetplattform ein rotes Herz für die Darbietung. Seitdem wird der junge Japaner für Konzerte gebucht – von vermögenden Privatiers und für öffentliche Veranstaltungen. Im Sommer letzten Jahres begeisterte er das Publikum auf dem Leipziger Abendmarkt vor dem historischen Alten Rathaus.
Mit Haydn und Netflix zum Erfolg – Yusuke Matsumuras Auftritt in Leipzig macht ihn bekannt. Screenshot: Matsumura/Instagram
Weltmeisterschaft und Training
Yusuke Matsumura wurde am 1. Juni 2024 Weltmeister im Kunstpfeifen. Der Contest umfasst drei Kategorien: Musikbegleitung (Pfeifen zu vorgegebener Musik), Selbstbegleitung (Pfeifen mit eigener Instrumentalbegleitung) und Allied Arts (Pfeifen als Teil einer Performance). Matsumura gewann den ersten Platz in der Kategorie „Musikbegleitung“, die als die schwierigste angesehen wird. In den beiden anderen Disziplinen wird er jeweils Zweiter.
Anpfiff für Matsumuras Kunstpfeifer-Laufbahn war im Alter von 13 Jahren. 2013 nimmt er erstmals an einem Ausscheid teil, 2015 erreicht er den 5. Platz bei einem internationalen Wettbewerb in Osaka. 2021 gewinnt er eine Online-Weltmeisterschaft. Mit dem Titel im Sommer 2024 geht ein lang gehegter Traum in Erfüllung.
Mit steigender Bekanntheit nehmen die Buchungen für Konzerte zu. Um sich auf die Vorstellungen vorzubereiten, wendet der Künstler eine besondere Technik an, die er „Image Training“ nennt. Dabei betrachtet er ein ausgedrucktes Bild des Konzertsaales, atmet tief ein, schließt dann die Augen und beginnt zu pfeifen. Dieses Ritual hilft ihm, sich zu konzentrieren, warm zu werden und weniger aufgeregt zu sein. Eine Mischung aus Meditation und praktischer musikalischer Übung.
Abschied von Sachsen
Zum Beginn der neuen Spielzeit wechselt Matsumara ans Theater in Trier, singt im dortigen Opernchor. Aktuell ist er in „La Traviata“ zu hören. Ein Umzug der Neugier wegen. Aber auch die wirtschaftliche Unsicherheit an den kleinen Bühnen außerhalb der sächsischen Großstädte treibt nicht nur diesen Künstler um. Von Zwickau nach Leipzig fährt man mit der Bahn eine gute Stunde. Trier ist 330 Kilometer weiter entfernt.
„Ich habe in Leipzig Freunde gefunden und liebe das Publikum hier“, sagt der Künstler. „Es ist von Trier aus nicht so weit nach Frankreich, was mich sehr freut. Aber die Zeit, um nach Leipzig zu fahren, werde ich mir immer wieder nehmen.“
Als sich unser Treffen am Thomaskirchhof dem Ende neigt und die Kellnerin die Rechnung bringt, sage ich zu ihr: „Sie hatten heute einen echten Weltmeister zu Gast“. Sie stutzt, mustert den Japaner und sagt: „Irgendwo habe ich Sie schon einmal gesehen“. Ich löse das Rätsel und beruhige sie, dass ich bis zum Vortag auch noch nicht wusste, dass es einen weltweiten Wettbewerb im Kunstpfeifen gibt.
Nun strahlt die junge blonde Frau. „Jetzt weiß ich es wieder, ich habe Sie auf der Petersstraße gehört. Das war wunderschön…“ Sagt’s und lächelt dabei, als hätte sie selbst der morgendliche Engel mit der Himmelsflöte sein können.
Besuch in der Thomaskirche. Trotz seines Umzugs nach Trier will der Weltmeister im Kunstpfeifen immer wieder in Leipzig auftreten und Freunde treffen. Foto: Benjamin Weinkauf