Brüssel. Heike Roth ist aufgeregt, als sie an Donnerstag am Berliner Flughafen auf ihren Flug nach Brüssel wartet. Eigentlich fährt die 57-Jährige lieber mit dem Zug – der Umwelt zuliebe, wie sie sagt. „Ich will meinen Kindern schließlich einen lebenswerten Planeten hinterlassen“, erklärt sie im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Roth ist eine von 19 zufällig ausgewählten Deutschen, die an diesem Freitag gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern aus ganz Europa der EU-Kommission Ratschläge für künftige Gesetze geben sollen.
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Die Frage lautet: Was denkt der einfache Bürger? Um das herauszufinden, hat die Kommission 150 Menschen aus allen Mitgliedstaaten eingeladen. Es geht um Generationengerechtigkeit – ein kontroverses Thema. In Deutschland hatten zuletzt Vorschläge wie ein „Boomer-Soli“ für wohlhabende Rentner oder ein verpflichtendes Sozialjahr für Ruheständler hitzige Debatten ausgelöst. Doch die Kernfrage reicht weit darüber hinaus: Wie das Leben heute und in Zukunft fairer zwischen den Generationen gestaltet werden kann, zieht sich durch alle Politikbereiche – vom Kampf gegen die Klimakrise, über eine hohe Staatsverschuldung bis hin zu Jugendarbeitslosigkeit und Altersdiskriminierung.
An drei Wochenenden beraten die zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürger über ihre Ideen, die anschließend in konkrete Empfehlungen an die Kommission einfließen sollen. „Es ist unglaublich spannend, die EU einmal hautnah zu erleben und selbst an der Zukunft Europas mitzuarbeiten“, sagt Roth. Die Berlinerin leitet ein Nachbarschaftshaus in Potsdam, in dem Jung und Alt zusammenkommen, voneinander lernen und gemeinsame Probleme lösen. Als sie den Flyer zum EU-Bürgerforum in ihrem Briefkasten fand, wusste sie sofort: „Das passt perfekt, da mache ich mit.“
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Besonders am Herzen liegen der Berlinerin der Klimaschutz und eine faire Rentenpolitik für die nächsten Generationen. „Was unsere Generation beim Klima angerichtet hat, müssen die nachfolgenden ausbaden. Sie werden längst nicht so unbeschwert leben können wie wir“, sagt sie. Auch beim Rentensystem sieht sie Reformbedarf: Immer weniger Beitragszahler müssen immer mehr Menschen finanzieren – das könne auf Dauer nicht funktionieren. Neue Lösungen seien gefragt. Dass alle Vorschläge des EU-Bürgerforums am Ende auch eins zu eins umgesetzt werden, glaubt Roth nicht. „Natürlich ist unser Einfluss begrenzt. Aber wir schaffen eine Grundlage, auf die sich Verbände berufen und mit der sie Druck auf die Kommission ausüben können.“
Tatsächlich könnte der Einfluss größer sein, als viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer vermuten. Denn die EU-Strategie für ein generationengerechtes Europa befindet sich noch ganz am Anfang. Glenn Micallef, Kommissar für Generationengerechtigkeit, Jugend, Kultur und Sport, kündigt an, die Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger als Leitfaden für das kommende Strategiepapier eines gerechteren Europas nutzen zu wollen. „Diese Strategie ist für die Menschen in Europa gedacht, daher ist es nur sinnvoll, dass sie von den Menschen in Europa selbst mitgestaltet wird“, sagt der Kommissar dem RND. „Wir werden gemeinsam daran arbeiten, eine gerechtere und integrativere Gesellschaft für alle zu schaffen und Leitplanken setzen, um sicherzustellen, dass diese Garantie auch für künftige Generationen gilt.“
Krisen, Krieg, Unsicherheit: Deutsche wollen, dass die EU in Zukunft eine größere Rolle spielt
Ganz neu ist das Instrument der Bürgerforen nicht: Schon in der Vergangenheit hatte die EU-Kommission zu Themen wie Hass und Hetze in der Gesellschaft zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger eingeladen. Sie forderten etwa, dass Hasspostings in sozialen Netzwerken schon vor ihrer Veröffentlichung erkannt und blockiert werden sollen. Außerdem sollten die Plattformen verpflichtet werden, ihre Algorithmen so auszurichten, dass sie eine Vielfalt an Meinungen anzeigen und nicht radikale Stimmen bevorzugen. Beide Forderungen spiegeln sich in den strengen europäischen Digitalgesetzen wider, die der Kommission heute als Grundlage dienen, um gegen die großen US-Plattformen vorzugehen.
Wie aktuell das Thema ist, zeigt der neue Bericht der EU-Kommission für ein krisenfestes Europa, den Micallef in dieser Woche vorgestellt hat. Darin hat die Kommission den Zusammenhalt der Generationen als eines von acht zentralen Handlungsfeldern identifiziert. Resilienz müsse neugedacht werden, so Kommissar Micallef. „Resilienz 2.0 steht für aktives, transformatives und vorausgreifendes Handeln. Es geht darum, sich zu wappnen für das Unbekannte, ja sogar das Unvorstellbare.“ Von der Anpassungsfähigkeit an den Wandel in der Welt bis zum Schutz der Demokratie.
Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Auch Heike Roth ist überzeugt: Die Demokratie hierzulande zu bewahren wird eine der größten Aufgaben der kommenden Generationen sein. Sie freut sich auf die Diskussionen, die nun bevorstehen. Schließlich betreffen viele Sorgen der jungen Generation auch sie persönlich. „Meine Tochter ist der Meinung, sie möchte keine Kinder in diese Welt setzen. Das macht mich natürlich sehr traurig, denn ich wäre gerne Großmutter“, erzählt Roth. In ihrer eigenen Generation habe es solche Gedanken kaum gegeben, damals schien die Zukunft noch sicher. In Brüssel will sie nun ihren Teil dazu beitragen, dass junge Menschen zuversichtlich in ihre eigene Zukunft blicken können.