Seit mehr als einem Jahr geht in Frankreich politisch fast nichts mehr. Die Meinungen sind einhellig: Der Präsident ist schuld an der Situation. Doch das ist ein Trugschluss. Er ist nur einer von vielen, denen es nicht gelingt, sich auf die Veränderungen im Land einzulassen.

Premierminister kommen und gehen - so schnell wird in Frankreich vermutlich nicht zur Ruhe kommen. Im Bild die Amtsübergabe von François Bayrou (links) an seinen Nachfolger Sébastien Lecornu am 10. September in Paris. Premierminister kommen und gehen – so schnell wird in Frankreich vermutlich nicht zur Ruhe kommen. Im Bild die Amtsübergabe von François Bayrou (links) an seinen Nachfolger Sébastien Lecornu am 10. September in Paris.

Ian Langsdon / Pool / EPA

Überraschen kann er immer noch. Niemand hat damit gerechnet, dass Emmanuel Macron derart schnell einen neuen Premierminister ernennt. Keine zwölf Stunden nachdem François Bayrou seinen Rücktritt eingereicht hatte, war der Name des Nachfolgers bekannt. Schon jetzt ist klar, dass auch Sébastien Lecornu keine lange Karriere vor sich hat. Doch die Forderungen nach seinem Rücktritt, sofortigen Neuwahlen oder anderen Kandidaten hat Macron mit der raschen Ernennung vorerst abmoderiert.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Lecornu ist der fünfte Regierungschef in zwei Jahren. Diese Art der Instabilität ist für Frankreich neu, aber nicht fremd. Die derzeit geltende Verfassung entstand, um genau dies zu verhindern. Als Charles de Gaulle sie 1958 ausarbeiten liess, hatte das Land in 11 Jahren 24 Regierungschefs erlebt. Innenpolitisch, aber insbesondere im Umgang mit den unruhigen Kolonien und Protektoraten, war dies zunehmend zum Problem geworden. Die neue 5. Republik verschob die Gewichte vom Parlament in Richtung Regierungschef – und vor allem in Richtung Präsident. Ein Mehrheitswahlrecht sollte dafür sorgen, dass im Parlament möglichst klare Verhältnisse entstehen.

Der Regierungschef, zuvor am Gängelband der übermütigen Legislative, sollte künftig die Politik gestalten, indem er mit seinem Kabinett Gesetze ausarbeitet und durchs Parlament bringt. Der machtbewusste General schuf aber auch ein Amt für sich. Er nannte es unverfänglich «Schiedsrichter», stattete das Präsidentenamt aber mit einer Fülle von Kompetenzen aus. Das sollte ihm ermöglichen, über den politischen Grabenkämpfen zu stehen, die Funktionsweise der Institutionen zu überwachen, die Armee zu führen und gegen aussen die nationale Unabhängigkeit, die Ehre und den Zusammenhalt zu wahren, wie es de Gaulle formulierte.

Rauchverbot und Subventionsstopp

De Gaulles Ziel war Effizienz und Kontinuität, «in einer Zeit, in der gigantische Kräfte die Welt verändern». Eine Feststellung, die er am 4. September 1958 auf der Place de la République in Paris machte und die 67 Jahre später nicht schlecht passt. Nur funktioniert das System, das de Gaulle damals zur Lösung der innenpolitischen Krise entwarf, nicht mehr.

Ähnlich wie in den 1950er Jahren ist das Parlament in drei Blöcke gespalten, wobei die Mitte der fragilste ist. Doch im Unterschied zur 4. Republik brachte das Parlament im letzten Jahr nicht viel mehr zustande, als ein Rauchverbot an Stränden zu erlassen oder Subventionen für die Renovation schlecht isolierter Gebäude zu streichen. Das Budget für das laufende Jahr kam zu spät und lässt keinen substanziellen Sparwillen erkennen. Dabei ist die Lage ernst, da hatte François Bayrou in seiner schwarzmalerischen Abschiedsrede am Montag recht. Frankreich ist innenpolitisch blockiert, und die noch immer wachsenden Schulden schränken den Handlungsspielraum immer mehr ein. Die Glaubwürdigkeit des Landes steht auf dem Spiel – finanziell wie aussenpolitisch.

Der Präsident hält sich derzeit – aufgrund fehlenden Rückhalts eher gezwungenermassen – weitgehend aus der Innenpolitik heraus. Dennoch ist die Reaktion in der Bevölkerung wie in der Politik dieselbe: Frust und Wut richten sich auf ihn. Er soll gehen, meinen die meisten, dann werde alles wieder gut. Es ist die Lebenslüge der 5. Republik, und sie wird erst recht unter diesen Bedingungen offensichtlich. Der Präsident ist zwar sehr mächtig, aber wenn er sich in den legalen Bahnen seines Amtes bewegt, ist er weder Heilsbringer noch der Sensenmann.

Es stimmt zwar: Emmanuel Macron hat das Land in diese Sackgasse manövriert, indem er im Sommer 2024 das Parlament frühzeitig auflöste. Sein bisweilen überhebliches Auftreten trägt das Übrige zu seinen rekordtiefen Popularitätswerten bei. Doch der Präsident hat mit der vorgezogenen Neuwahl lediglich eine Entwicklung beschleunigt, die sich seit längerem abgezeichnet hat.

Die gebrochenen Versprechen

Im Wahlergebnis zeigte sich das, was Jérôme Fourquet, einer von Frankreichs prominentesten Demoskopen, schon vor einigen Jahren als «Archipelisierung» ausgemacht hat. Er meint damit, dass sich im grössten Flächenland der EU mehrere Lebensrealitäten gebildet haben, die sich wenig berühren und keine gemeinsame Identität haben. Man muss dafür nicht einmal die Extreme zwischen der Hauptstadt und den kleinen ländlichen Gemeinden bemühen. Schon die Person, die in einem Pariser Mehrfamilienhaus putzt, wird von den Bewohnern oft nur beachtet, wenn sie dringend etwas von ihr brauchen. Diese Entfremdung schlägt sich auch im Wahlverhalten nieder. Die Mehrheit der französischen Bevölkerung wählt nicht mehr treu gemässigt links oder konservativ. Wenn sie überhaupt noch wählen, so wenden sie sich den Extremen oder auch kleineren Parteien zu, weil sie sich von den Politikern nicht vertreten fühlen.

Macron konnte diese Entwicklung kurzfristig auffangen. Er hat 2017 die Wahl gewonnen, weil er versprochen hatte, alles anders zu machen und auf diese Entwicklungen einzugehen. Mit seiner «Revolution», wie er seine Ideen unbescheiden zusammenfasste, wollte er das Vertrauen in die Politik wiederherstellen. Es gab genug Wähler und Wählerinnen, die ihm glaubten und seiner aus vielen Laien bestehenden Bewegung eine Mehrheit verschafften.

Doch nach acht Jahren mit mehreren Krisen zeigt sich: Aus den Versprechen ist nicht viel geworden. Mit seinen Ideen und den bisweilen brachialen Methoden stiess er schnell an Grenzen und musste wie manche seiner Vorgänger vor der Strasse einknicken. Auch wenn die häufigen Demonstrationen den Eindruck erwecken: Den Franzosen ist nicht nach Revolution. Auch wenn sie notorisch unzufrieden sind, so wollen sie möglichst weiterleben wie bisher.

Macron ist eben doch ein sehr traditioneller Präsident, mit fehlendem Gespür für die Stimmung im Land, der mit seiner bisweilen abgehobenen Art schnell eine kritische Menge an Menschen gegen sich aufbrachte. Auch die sozialen Krisen bekämpfte er mit traditionellen Mitteln: Geld. Die Erkenntnis ist umso härter, als dass die französische Wirtschaft schwächelt und sich die finanzielle Lage des Landes in seiner Amtszeit zugespitzt hat. Entsprechend schlecht ist die Stimmung, und das Gefühl verlorener Jahre nicht ganz verkehrt. Schon seine zweite Wahl hat Macron nur gewonnen, weil eine Mehrheit der Wähler und Wählerinnen die rechtsnationale Marine Le Pen verhindern wollte. Und die jüngsten Wahlergebnisse deuten an, dass er und seine Bewegung nur ein Strohfeuer waren.

Ineffizient, aber bequem

Wo ist nun der Ausgang? Charles de Gaulle fand ihn durch eine neue Verfassung, die er durch eine Volksabstimmung legitimieren liess. Die Dringlichkeit war damals eine andere: Die politische Instabilität dauerte bereits mehr als zehn Jahre. Zudem kämpfte Frankreich um seine Vormacht in Algerien, und de Gaulle glaubte in den 1950er Jahren noch, die Kolonie halten zu können. Auch damit legitimierte er die vielen Kompetenzen in der Hand des Präsidenten.

Auch wenn vor allem Frankreichs finanzielle Lage alarmierend ist: Vergleichbar ist sie mit den 1950er Jahren nicht, zumal sich das abstrakte Schuldenproblem bestens verdrängen lässt. Die Forderung nach einer 6. Republik erhebt derzeit nur die extreme Linke – und vielleicht ist sie auch noch gar nicht nötig.

Auch die gegenwärtigen Strukturen lassen Platz, die Situation zu deblockieren. Erstens, indem die Parlamentarier Verantwortung übernehmen und Kompromisse suchen. Das ist angesichts ihres jahrelangen Daseins als professionelle Abnicker oder Gegner der präsidialen Politik nicht einfach. Aber noch scheint den wenigsten bewusst zu sein, dass sie die Politik gestalten könnten. Zweitens könnte der Präsident oder aber das Parlament etwas dafür tun, um die Französinnen und Franzosen am politischen Prozess teilhaben zu lassen. Schon mehrmals hat Macron die Möglichkeit einer Abstimmung angesprochen, ohne je konkret zu werden. Thema könnte etwa eine immer wieder diskutierte Wahlrechtsreform hin zu mehr Proporz sein. Der Wunsch nach anderen Formen der Beteiligung, das zeigen Umfragen, ist in der Bevölkerung gross. Aber nichts passiert.

Die Zeichen stehen jedoch auf Weiterwursteln. Der neue Regierungschef verspricht zwar eine Zäsur in Form und Inhalt – was auch immer das bedeuten mag. Doch im Grunde weiss er: Wenn er das nächste Budget ins Ziel bringt, hat er seinen Auftrag erfüllt. Selbst die prominentesten Gegner Macrons, der Linksextreme Jean-Luc Mélenchon und die rechtsnationale Marine Le Pen, werden sich kaum in die Parlamentsarbeit stürzen. Sie haben vor allem die nächste Präsidentschaftswahl im Blick. Da kann Macron derzeit noch so schlecht dastehen: Das Amt bleibt – unter Politikern wie im Volk – eine wahre Obsession.

Noch sind es anderthalb Jahre bis zum regulären Termin. Gelingt es Macrons Nachfolger oder einer Nachfolgerin, in zwei Jahren eine Mehrheit im Parlament zu finden, ist der Druck, etwas zu verändern, schnell wieder vom Tisch. Die 5. Republik mag derzeit ineffizient sein und dazu führen, dass Europa mit zunehmender Sorge auf Frankreich blickt. Aber sie ist auch wahnsinnig bequem: Schuld ist am Ende immer der Präsident.