Frau Gromes, wann ist Ihnen zum ersten Mal bewusst geworden, dass Komponistinnen in unserer Gesellschaft praktisch ausgeblendet sind?
Raphaela Gromes: Das ist eigentlich erst in der Corona-Zeit passiert. Ich hatte damals Zeit, mich intensiver mit meinem Repertoire zu beschäftigen, habe Noten bestellt, Namen entdeckt, die ich noch nie gehört hatte – und plötzlich hat sich eine ganze Welt aufgetan. Da waren großartige Werke, wirklich tolle Kompositionen. Und ich habe mich gefragt: Warum kenne ich diese Frauen nicht? Warum sind sie aus den Konzertsälen verschwunden? Erst durch dieses Entdecken habe ich gemerkt, dass da etwas ganz grundlegend nicht stimmt. Ich sage heute: Dieses Projekt hat mich zur Feministin gemacht.
Sie haben nicht nur CDs aufgenommen, sondern auch ein Buch geschrieben. Wie kam es dazu?
Gromes: Mich haben die Lebensgeschichten dieser Frauen unglaublich berührt. Viele waren wahre Heldinnen, die für sich und andere gekämpft haben, die Türen geöffnet und den Weg bereitet haben – und trotzdem wurden sie vergessen. Ich wollte diese Geschichten erzählen, weil sie inspirierend sind und nicht nur für die Klassik-Welt wichtig sind, sondern allgemein etwas über unser Denken verraten: über Vorurteile, über Strukturen, die bis heute nachwirken. Mir war klar: Das kann ich nicht allein stemmen. Für die vielen Biografien, die historischen Hintergründe und Fakten brauchte ich eine Co-Autorin. Mit der Musikwissenschaftlerin Susanne Wosnitzka habe ich eine wunderbare Partnerin gefunden. Sie hat recherchiert und Material geliefert, ich habe daraus meinen persönlichen Blick formuliert – damit das Buch in meiner Stimme bleibt.
Haben Sie Ihre Entdeckungsreise bewusst zum roten Faden des Buches gemacht?
Gromes: Ja, das hat sich so ergeben. Am Anfang stand mein eigenes „Erweckungserlebnis“ – plötzlich gingen mir die Augen auf. Dann bin ich immer tiefer eingestiegen, habe die ersten Komponistinnen für mich entdeckt, später die historischen Wurzeln der vielen Vorurteile. Genau diese Reise spiegelt das Buch: von der persönlichen Erfahrung hin zum großen historischen Zusammenhang.
War es schwer, überhaupt Quellen zu finden?
Gromes: Überhaupt nicht. Es gibt seit den 1970er- und 1980er-Jahren eine Fülle an musikwissenschaftlicher Arbeit, viele Komponistinnen wurden bereits ediert, Verlage wie der Furore-Verlag in Kassel oder Hildegard Publishing in den USA haben viel herausgebracht. Nur: All das ist nie wirklich im Konzertbetrieb angekommen. Ich konnte auf diesem Wissen aufbauen. Dazu kamen eigene Recherchen mit dem Archiv Frau und Musik und auch persönliche Kontakte, die uns ermöglicht haben, Komponistinnen mit Interviews ganz neu vorzustellen.
Welche Komponistinnen haben Sie am meisten beeindruckt?
Gromes: Marie Jaëll, die als erste Frau ein Cellokonzert schrieb und auch brillante Klaviermusik komponierte. Luise Adolpha Le Beau, eine Münchnerin, deren Cellosonate für mich ein Meisterwerk ist: hochkomplex, absolut auf den Punkt, ohne jede Länge. Man ist fast enttäuscht, wenn sie zu Ende ist. Und Henriëtte Bosmans aus den Niederlanden – ihre Musik ist expressiv, eigenständig und gehört dringend zurück in die Konzertsäle. Das sind meine Favoritinnen fürs Cello-Repertoire.
Frauen wurde über Jahrhunderte gesagt, sie seien fürs Komponieren ungeeignet. Mit welchen Argumenten?
Gromes: Ganz früh – unter dem Einfluss der katholischen Kirche – galt Musik bei Frauen als unsittlich, sie wurde in die Nähe der Prostitution gerückt. Eine Frau, die sang oder musizierte, galt als verführerisch, gefährlich. Später, in der Aufklärung, wurde es nicht besser: Gleichheit hieß „Gleichheit der Männer“. Frauen waren nicht mitgemeint. Man sprach ihnen schlicht die Genialität ab. Ein berühmter Satz lautete: „Der Mann gebiert das Kunstwerk, die Frau gebiert den Menschen.“ Das hat sich tief in die Köpfe eingegraben.
Und das häufigste Vorurteil?
Gromes: Dass Frauen keine Begabung hätten. Wenn sie doch komponierten, dann sei es eben „zart“ und „lieblich“. Große Formen, Sinfonien, Opern – das traute man ihnen nicht zu. Aber natürlich ist das Quatsch. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Komponieren. Entscheidend ist Handwerk, Ausbildung, und dann die individuelle Persönlichkeit.
Heute noch sind Komponistinnen und Interpretinnen unterrepräsentiert. Warum?
Gromes: Das frage ich mich auch. Bei Cellosolistinnen auf großen Bühnen liegt der Anteil bei nur 22 Prozent, bei lebenden Komponistinnen sind es gerade einmal 13 Prozent. Dass wir in der Klassik nicht auf 50 Prozent kommen, ist klar, historisch gab es weniger Möglichkeiten. Aber heute? Das verstehe ich nicht. Ich glaube, es hat viel mit Gewohnheit und Vorurteilen in den Köpfen von Dramaturgen und Intendanten zu tun. Natürlich denkt man zuerst an die bekannten Männer. Eine Quote halte ich nicht für sinnvoll, Qualität soll zählen. Aber wenn man wirklich offen nach Qualität sucht, findet man sehr viele hervorragende Komponistinnen.
Sie spielen inzwischen viele Werke von Komponistinnen. Ist das für Ihre Karriere ein Risiko?
Gromes: Fragen Sie mich in zehn Jahren noch einmal (lacht). Im Moment läuft es sehr gut. Meine CD „Femmes“ stand auf Platz 1 der Klassikcharts, die Konzertsäle waren voll. Das zeigt: Das Publikum ist neugierig auf Neues. Und Sony hat sofort ein Folgeprojekt ermöglicht: „Fortissima“ mit großformatigen Werken von Komponistinnen. Das ist ermutigend.
Wie weit sind wir insgesamt von einer gleichberechtigten Gesellschaft entfernt?
Gromes: Leider noch sehr weit. Zwar gab es Fortschritte, aber weltweit erleben wir Rückschritte. In Afghanistan und im Iran dürfen Frauen nicht zur Schule, nicht arbeiten, nicht singen – sie werden systematisch aus dem öffentlichen Leben gedrängt. Und auch hierzulande gibt es Familien, in denen Mädchen heimlich musizieren, weil es ihnen verboten ist und sie früh verheiratet werden sollen. Das ist bitter, und es wird viel zu wenig darüber gesprochen. Oft aus Angst, man könnte rassistisch wirken. Aber wir müssen das thematisieren – sonst ändert sich nichts.
Das Interview führteJesko Schulze-Reimpell.
Ein Buch über Komponistinnen
Zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Susanne Wosnitzka hat Raphaela Gromes ein Buch geschrieben: „Fortissima! Verdrängte Komponistinnen und wie sie meinen Blick auf die Welt verändern“. Zu dem Buch ist auch eine CD gleichen Titels erschienen, mit Einspielungen von kaum bekannten Komponistinnen. Auf das Thema zum Buch ist Gromes gekommen, als sie für ihre CD „Femme“ recherchierte – und dabei ungewöhnliche musikalische Schätze und spannende Geschichten entdeckte. „Femme“ war ungewöhnlich erfolgreich und stand auf Platz eins der Klassik-Charts.
Die 34-jährige Cellistin ist in München in einer Musikerfamilie aufgewachsen. 2012 wurde sie mit dem Musikförderungspreis des Konzertvereins Ingolstadt ausgezeichnet. Seitdem tritt sie regelmäßig als Solistin in Ingolstadt auf. Raphaela Gromes stellt zusammen mit dem Pianisten Julian Riem ihre neue CD und das Buch „Fortissima“ am 25. November, 20 Uhr, im Prinzregententheater München vor. Aus dem Buch wird die Fernsehmoderatorin Judith Rakers lesen. Karten gibt es unter anderem bei Münchenticket.jsr