Ein „Roman aus dem Krieg“: Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat einen bedrückend-beklemmenden Roman über den Ukraine-Krieg geschrieben
von Gérard Otremba
Krieg ist immer scheiße. Völlig egal, wann, wo und wie. Seit über drei Jahren versucht der russische Machthaber Wladimir Putin die benachbarte Ukraine von der Landkarte zu löschen, um den Beginn einer neuen Weltordnung einzuläuten. Wie diese in den Augen der russischen Regierung aussehen sollte, hat Außenminister Sergei Lawrow mit seinem „UDSSR“-Shirt während des unsäglichen Treffens bei Donald Trump in Alaska mehr als deutlich gemacht. Russland führt in der Ukraine nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, Russland hat mit dieser schändlichen wie erbärmlichen und gewaltvollen Grenzübertretung Europa angegriffen. Denn als Teil Europas kann man Russland nunmehr wirklich nicht mehr ansehen.
Szczepan Twardoch als Ukraine-Unterstützer
Wie scheiße Krieg ist, haben schon zahlreiche Schriftsteller aufgezeigt, darunter natürlich Erich Maria Remarque mit „Im Westen nichts Neues“ oder Dalton Trumbo mit „Johnny zieht in den Krieg“. Nun reiht sich der polnische Autor Szczepan Twardoch, der mit seinen von Sounds & Books rezensierten Romanen „Morphin“, „Drach“, „Der Boxer“, „Das schwarze Königreich“, „Demut“ sowie „Kälte“ für literarisches Aufsehen gesorgt hat, in die Reihe der Kriegsliteraten von Ernest Hemingway bis Ernst Jünger. Twardoch wohnt in Oberschlesien, nur eineinhalb Tage mit dem Auto von den Kämpfen im Donbass entfernt. An die Front hat sich der als Unterstützer der Ukraine bekannte Autor – Twardoch beteiligt sich z.B. an privaten Crowdfunding-Aktionen für Drohnen für die Ukraine – selbst begeben. Aus seinen Erlebnissen entstand „Die Nulllinie“, keine Kriegsreportage, sondern ein „Roman aus dem Krieg“.
An der Nulllinie
Im Mittelpunkt steht der 45-jährige Kón, ein aus Warschau stammender, polnischer Historiker und Drohnenpilot mit ukrainischen Wurzeln, dem wir als Soldat in einem als „Unterstand“ bezeichneten Erdloch auf der „falschen Seite“ von „Vater Dnipro“ unweit der Nulllinie, also Auge im Auge mit dem russischen Feind, begegnen. Zu Beginn lässt Szczepan Twardoch Kón gemeinsam mit den Kameraden Ratte an seiner Seite und Jagoda etwas weiter weg in derselben Stellung in einer Art kammerspielartigen Weise agieren, bevor auch kriegerische Handlungen zum Romanstoff werden und Kón erstmals einen Menschen tötet.
Twardoch auf dem Höhepunkt seiner Erzählkunst
Twardoch erzählt wieder so kompromisslos wie man es aus seinen Vorgängerromanen kennt und schätzt. In Kón erfindet der 1979 geborene Autor eine fatalistische Hauptfigur, dessen privates Umfeld, seine Sehnsüchte und Träume er detailliert beleuchtet. Die Kón in Person seiner Mutter sowie der Künstlerin Zuja wieder etwas Hoffnung inmitten des vermaledeiten Krieges vermitteln. Twardochs Erzähler spricht Kón häufig mit „Du“ an, was zu dem Effekt eines inneren Monologs führt, teilweise so heftig ausgeführt wie der Krieg selbst. Nie wird in „Nulllinie“ der Krieg, der mit jeder abgeschossenen Drohne in Polen ein Stück näher rückt, zu einem heroischen Kampf stilisiert. Vielmehr bleibt Kón ein Antiheld, der zwischen Mut und Verzweiflung agiert. Ein bedrückend-beklemmender Roman, der Szczepan Twardoch erneut auf einem Höhepunkt seiner Erzählkunst zeigt.
Szczepan Twardoch: „Die Nulllinie“, Rowohlt Berlin, übersetzt von Olaf Kühl, Hardcover, 256 Seiten, 978-3-7371-0209-4, 24 Euro. (Beitragsbild von Jacek Poremba)
von Gérard Otremba
Jahrgang 1969. Selbständiger Journalist und als Chefredakteur verantwortlich für den Inhalt von Sounds & Books. Muss mit Sounds & Books Geld verdienen, um seine Miete bezahlen zu können. Begann seine journalistische Karriere in den 90ern für die Frankfurter Musikzeitschrift Kick’n’Roll, bevor er einige Jahre als freier Mitarbeiter für die Frankfurter Rundschau tätig war. Seit 2010 Online-Veröffentlichungen. Rezensent beim Rolling Stone-Magazin. Autor der Schriften „Die geheimen Aufzeichnungen des Buchhändlers“ sowie „Ein weiterer Tag im Leben des Buchhändlers“. Großer Bewunderer der Musik von The Beatles, Bob Dylan, Bruce Springsteen, Neil Young, Van Morrison, Wilco, Nick Cave und Element Of Crime. Sympathisant des FC St. Pauli, Marathonläufer. Lebensmotto: „Rock’n’Roll Can Never Die“.