Der Spätsommer gibt an diesem Samstag noch einmal alles – und die Münchner Innenstadt quillt über vor Menschen. Die Internationale Automobil-Ausstellung lockt am finalen Wochenende noch einmal mit ihren Open Spaces Zehntausende ins Zentrum, und auch Hunderte Fans in Bayern-Trikots und Shirts des Hamburger SV sind bereits zur Mittagszeit unterwegs. Am Abend steht das „Topspiel“ der beiden Traditionsvereine an. Aber auch hinter dem Münchner Rathaus hat sich eine lange Schlange gebildet. Geduldig warten entlang des Bauzauns Hunderte Menschen, um einen Ort betreten zu können, der ihnen sonst verborgen bleibt: die Baustelle unter dem Marienhof.
Die Deutsche Bahn hat zum „Tag der offenen Tür“ geladen, was angesichts der Megabaustelle, die das Stadtbild hier noch auf Jahre hinaus prägen wird, sehr viel kleiner klingt als es tatsächlich ist. Meterhoch über dem Boden durchziehen blaue Rohre das Areal, Kräne ragen weithin sichtbar in den weiß-blauen Himmel auf, an der Landschaftstraße direkt am Rathaus prägt ein mehrere Stockwerke hohes Gebäude aus Containern die Szenerie. Die größte Attraktion auf der Baustelle aber befindet sich weit unter dem Marienhof – in 27 Meter Tiefe.
Die Bahn hat ihren nächsten Baufortschritt gekonnt in Szene gesetzt: Mit bunten Lichtern wird die Röhre ausgeleuchtet, ein Bagger steht für alle sichtbar hinter dem Bauzaun, der Besucherinnen und Besucher davon abhält, einfach weiterzulaufen. Würde es dennoch jemand über die Absperrung schaffen, käme er ziemlich genau 50 Meter weit und stünde vor einer Wand. Nur wenige Meter dahinter befindet sich der U-Bahnhof Marienplatz.
Seit dem Frühjahr haben Bauarbeiter hier den neuen Durchgang vom künftigen S-Bahnhof Marienhof bis zur Station Marienplatz gegraben. Immer unter Druckluft, meist etwas weniger als ein Bar, in Sechs-Stunden-Schichten, oft wurde 24 Stunden am Tag durchgearbeitet. „Alle mussten durch die Schleuse“, sagt der Sprecher der Bahn-Tochter DB Infrago, Sebastian Meyer, bei einem Rundgang unter dem Marienhof. Die Baustelle selbst, etwa so groß wie ein Fußballfeld, werde durch massive Schlitzwände gestützt, erklärt Meyer. Das sei in der Tunnelbaustelle aber nicht der Fall gewesen. „Für die Bauarbeiter herrschte Druck wie bei einem Tauchgang in zehn Meter Tiefe“, sagt er. „Das war schon extrem herausfordernd.“
Der Besuchertag auf der Baustelle der zweiten Stammstrecke unter dem Marienhof zieht zahlreiche Interessierte an. (Foto: Johannes Simon)
Die Arbeiter sind zum Teil hohen Belastungen ausgesetzt. In der Tiefe wird mit Druckluft gearbeitet – vergleichbar damit, als würden sich die Beschäftigten auf einem Tauchgang in zehn Meter Tiefe befinden. (Foto: Johannes Simon)
Jetzt ist der Rohbau des Fußgängertunnels fertig, der finale Durchbruch zur Station Marienplatz wird aber erst sehr viel später erfolgen. Denn der neue Bahnhof Marienhof ist als eine von drei neuen Stationen neben den Haltestellen am Haupt- und Ostbahnhof Bestandteil der zweiten Stammstrecke. Und deren Fertigstellung wird nach erheblichen Verzögerungen bei den Planungen und Bauarbeiten frühestens für das Jahr 2035 erwartet, eine Inbetriebnahme der neuen Röhre unter der Münchner Innenstadt erst im Jahr 2037 gilt aber als wahrscheinlicher.
Bei der Fertigstellung der zweiten Stammstrecke wird der Bahnhof Marienhof eine zentrale Rolle spielen. Denn gebaut wird die Stammstrecke in zwei Abschnitten. Vermutlich Anfang der Dreißigerjahre, sagt Bahnsprecher Meyer, werden die „großen Tunnelbaumaschinen“ hier unter dem Marienhof ankommen: Jeweils drei sogenannte Tunnelvortriebsmaschinen, die sich von Westen ab Laim unter der Innenstadt vorwärts fräsen werden und dabei drei Tunnel graben: die zwei Röhren für die S-Bahnen sowie einen kleineren Rettungs- und Erkundungstunnel dazwischen. Drei weitere Maschinen werden zwischen dem Leuchtenbergring und dem Ostbahnhof in den Untergrund abtauchen und von Osten her die drei Tunnel vorantreiben. Am Marienhof werden sich die sechs Maschinen dann treffen und die Röhren vervollständigen. Die Arbeiten an den Rettungstunneln, so Meyer, sollen im Jahr 2026 beginnen; 2027 respektive 2028 starten dann die Arbeiten an den S-Bahnröhren.
Die S-Bahnen werden am Marienhof in einer Tiefe von etwa 40 Meter ein- und ausfahren. Damit baut die Bahn zusammen mit der neuen Station am Hauptbahnhof, der eine ähnliche Tiefe erreichen wird, die am tiefsten gelegenen Haltestellen in Deutschland. Und dass die Arbeiten unter dem Marienhof keine reinen Tiefbauarbeiten sind, wird an der Figur der heiligen Barbara deutlich, die im lichtdurchfluteten Rohbau des Bahnhofs an einer der gewaltigen Stelen hängt, die das Gewicht der Betondecken tragen. Gemeinhin gilt die Heilige Barbara als Schutzheilige der Bergleute.
Der S-Bahnhof Marienhof wird 40 Meter unter der Erde liegen und gilt damit als eine der tiefsten Haltestellen in Deutschland. Wohl auch deshalb wacht die Heilige Barbara über der Baustelle – sie gilt als Schutzheilige der Bergleute. (Foto: Johannes Simon)
Der 50 Meter lange Tunnel vom Marienhof zum Marienplatz aber wurde nicht von einer Vortriebsmaschine ausgefräst. „Er wurde ausgebaggert“, sagt Infrago-Sprecher Meyer. Wenn er einmal in Betrieb gehen wird, werden Pendlerinnen und Pendler nach ihrer Ankunft mit der S-Bahn am Marienhof in 40 Meter Tiefe mit einem Turboaufzug auf eine Ebene darüber auf 27 Meter im Untergrund fahren können. Durch den Fußgängertunnel erreichen sie dann schnell und unkompliziert die Ebene des Marienplatzes, auf der die U-Bahnen der Linien 3 und 6 halten. Wer stattdessen den Turboaufzug ganz nach oben nimmt, soll dann nicht mehr auf einer Baustelle ankommen, sondern auf einem begrünten Marienhof.