„Europa muss aus der Geisteshaltung herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas.“ Mit diesem Satz provozierte Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar und setzte zugleich eine Botschaft: Delhi will Partnerschaften, aber von niemandem bevormundet werden. In westlichen Debatten wird Indien inzwischen oft als Teil eines neuen Blocks gesehen. So schrieb die Zeit, Trump habe ein neues, antiwestliches Bündnis hervorgebracht, bestehend aus China, Indien und Russland. Doch die Realität ist komplizierter, und die Inder sind „open for business“.

In dieser Woche reiste eine ranghohe EU-Delegation nach Neu-Delhi, um die festgefahrenen Gespräche über ein Freihandelsabkommen neu zu beleben, nachdem mehrere Anläufe ins Leere gelaufen sind. Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Trumps Strafzölle haben die Weltwirtschaft erschüttert, Indien hart getroffen und Europa plötzlich wieder ins Spiel gebracht.

Indien sieht Brics und Quad als Forum – nie als Block

Indien sitzt bei Brics und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit neben Russland und China, während es im „Quad“ eng mit den USA, Japan und Australien kooperiert. „Das ist kein Bündnis, sondern ein Forum der Bequemlichkeit“, sagt der Politökonom Tushar Shetty, Host des Podcasts „Beyond the Indus“. Indien nutzte die verschiedenen Formate, um sich als eine globale, vielstimmige Macht zu positionieren, so Shetty gegenüber der Berliner Zeitung. Für China sind diese Foren Gegengewichte zum Westen, für Indien sind sie Bühne und Hebel zugleich. Delhi bleibt blockfrei, es spricht mit allen, ohne sich an irgendwelche Strukturen fesseln zu lassen.

Russland spielt in dieser Strategie eine besondere Rolle. Seit Jahrzehnten liefert Moskau Waffen, Energie und Nukleartechnologie. „Die Sowjets waren 1971 bereit, wegen Indien einen Atomkrieg zu riskieren. Nie zuvor und nie danach hatte Indien solche Rückendeckung“, erklärt Shetty. Bis heute gilt: Anders als mit China oder den USA hat es zwischen Moskau und Delhi nie tiefere Konflikte gegeben. Russische Kampfjets, U-Boote und Atomkraftwerke prägen Indiens Sicherheitsarchitektur. Doch die wachsende Abhängigkeit Russlands von China verändert dieses Gleichgewicht. In Neu-Delhi betrachtet man diese Entwicklung mit Sorge, weil Peking die eigentliche Bedrohung bleibt.

Das Verhältnis zu China ist von Rivalität geprägt. Zwar ist Peking wichtigster Handelspartner, doch ungelöste Grenzkonflikte im Himalaya sorgen für ständige Spannungen. Hinzu kommt der Wettstreit im Indischen Ozean. Auf den Malediven fördert Delhi Infrastrukturprojekte, während Peking Häfen über seine „Maritime Silk Road“ finanziert. Auch in Sri Lanka, Bangladesch und Myanmar konkurrieren beide um Einfluss. Mit dem India-Middle East-Europe Economic Corridor (IMEC), der Warenströme von Mumbai über den Nahen Osten nach Europa lenken soll, wirbt Indien zudem für eine Alternative zu Chinas Seidenstraßenprojekt.

Mit den USA wiederum bleibt das Verhältnis widersprüchlich. Modi ließ sich 2019 von Trump feiern, nur um wenig später von Strafzöllen auf Textilien, Stahl und Agrarprodukte getroffen zu werden. „Dreißig Jahre Vertrauensaufbau sind damit im Handstreich verdampft“, sagt Shetty. Viele Inder empfanden die Trump-Zölle als Verrat.

Europa wirkt da verlässlicher. In den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen gibt es inzwischen Fortschritte. Mehr als die Hälfte der Kapitel ist bereits abgeschlossen, etwa zu geistigem Eigentum oder digitalen Regeln. Doch bei den strittigen Fragen bleibt es heikel: Europäische Forderungen nach Marktöffnung bei Autos, Alkohol oder Milchprodukten stoßen auf Widerstand. Für Indien ist das keine technische Frage, sondern eine politische. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung sind Kleinbauern, jede Marktöffnung kann Existenzen in Indien gefährden. „Europa darf hier nicht die Fehler der USA wiederholen“, warnt Shetty. „Wer Indien gewinnen will, muss verstehen, dass es nicht nur um Märkte geht.“

„Deutschland könnte hier von Indien lernen“

In diesem Zusammenhang fragte die Berliner Zeitung bei drei indischen Ingenieuren nach, die seit fünf Jahren in Berlin leben und anonym bleiben wollen. Im Gespräch wurde deutlich, dass die EU dort vor allem durch einzelne Länder wahrgenommen wird, weniger als ein geopolitisch einheitlicher Block. Deutschland gilt vielen als Anführer, wenn es um große Abkommen geht, gefolgt von Frankreich im Rüstungsbereich und Italien im Handel. Gleichzeitig betonen die drei Gesprächspartner, dass in Indien mehr Wissen über Europa existiert als umgekehrt. Viele Inder studieren oder arbeiten in Deutschland, doch kaum jemand aus Europa geht nach Indien. Austauschprogramme und persönliche Kontakte könnten hier eine Lücke schließen. Bei internationalen Bündnissen sehen viele Inder eine ähnliche Ambivalenz wie Shetty. Weder die SOZ noch Quad seien starre Blöcke. Unter Biden habe man Vertrauen gespürt, unter Trump dagegen Angst vor einem plötzlichen Bruch.

Die drei Inder beobachten auch Unterschiede im Alltag. Deutschland gilt als bürokratisch, während in Indien viele Verwaltungsakte längst digitalisiert sind. Ein Reisepass kann dort online innerhalb einer Woche verlängert werden, Strom- und Gasrechnungen laufen über ein einheitliches digitales System. „Deutschland könnte hier von Indien lernen“, meint einer von ihnen. Besonders stolz sind sie auf die Innovationskraft.

Stichwort Digitalisierung – mit UPI, dem Unified Payments Interface, hat die indische Regierung per Dekret ein digitales Zahlungssystem geschaffen, das so einfach wie universell ist. Ein QR-Code genügt, und Geldsummen wechseln binnen Sekunden den Besitzer. Innerhalb weniger Jahre nutzen es Hunderte Millionen Menschen, auch in den Bundesstaaten, die vom elektronischen Zahlungsverkehr bisher weitestgehend außen vor blieben. Auch in der Medizin hat Indien Fortschritte gemacht. Viele Behandlungen sind beispielsweise günstiger als im Westen. Patienten aus den USA und Australien reisen deshalb zunehmend nach Indien.

Auch der ehemalige deutsche Botschafter in Indien, Walter Lindner, warnte jüngst in einem Zeit-Interview davor, Delhi nur durch die Brille alter Kategorien zu sehen. „Wir – und damit meine ich westliche Industrienationen – denken immer noch, wir wüssten alles besser. Indien ist ein sehr junges Land, mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Die Menschen sind risikobereit und dynamisch. Sie wachsen mit hohem Konkurrenzdruck auf, gründen Start-ups, scheitern, versuchen es nochmal. Gleichzeitig können sie sich sehr gut anpassen, weil sie das ständig müssen.“ Europa, so Lindners Fazit, sollte nicht versuchen, Indien zu belehren, sondern genauer hinschauen, wie das Land mit Tempo und Wandel umgeht.

Die Energiefrage aber zeigt die Bruchlinien am deutlichsten. Europa kritisiert Indiens Ölimporte aus Russland, kauft jedoch dasselbe Öl nach der Raffinierung wieder zurück. „Man wirft uns vor, russisches Öl zu kaufen. Aber Europa kauft unser raffiniertes Öl trotzdem, nur eben über Umwege“, sagt einer der Ingenieure. Für viele in Indien ist das der sichtbarste Ausdruck einer Doppelmoral. Wer finanziert wessen Krieg – der Käufer oder der Verkäufer?

Es braucht mehr Pragmatismus im Umgang mit Indien

Am Ende bleibt Indien blockfrei. Die Tradition der Blockfreiheit, also des Non-Alignments, zieht sich durch die indische Außenpolitik. Neu-Delhi will seine Probleme selbst lösen und zugleich offen für Handel und Partnerschaften bleiben. „Indiens Tür ist offen“, sagt Shetty. „Aber sie öffnet sich nur für Angebote, nicht für Belehrungen.“

Europa täte gut daran, dies ernst zu nehmen. Statt moralisierender Rhetorik braucht es Pragmatismus. Weniger Forderungen, mehr Austausch. Weniger Bevormundung, mehr Kooperation. Investitionen, Technologiepartnerschaften, Bildungsprogramme – und Symbole, die zeigen, dass man Indien auf Augenhöhe begegnet.

Indien bleibt eine Wildcard. Kompliziert, widersprüchlich, vielen in Europa fremd, doch entscheidend für das Machtgefüge der kommenden Jahrzehnte. Blockfrei, offen für Geschäfte, bereit für Partnerschaften. Dass Trumps Strafzölle das globale Gleichgewicht verschoben haben, hat Europa ins Spiel gebracht. Ob Brüssel diese Chance nutzt oder Indien auch für die EU ein ungelöstes Rätsel bleibt, entscheidet sich im September.