Nach 38 Prozesstagen soll an heutigen Dienstag das Urteil im Prozess um den Mord an Polizist Rouven Laur in Mannheim gesprochen werden.

Der mutmaßliche Mörder gerät ins Plaudern – wieder einmal. „Sie neigen dazu, einige Ereignisse der Tat nach hinten zu verlegen“, entgegnet Herbert Anderer ruhig. Der Vorsitzende Richter des 5. Strafsenats vermittelt mit seiner Körperhaltung den Eindruck höchster Konzentration.

Vor ihm sitzt Sulaiman A.. Der Afghane gesteht am sechsten Verhandlungstag vor dem Oberlandesgericht Stuttgart, am 31. Mai 2025 in Mannheim den Polizeihauptkommissar Rouven Laur erstochen zu haben. „Ich sage, wie ich dazu gekommen, diese schreckliche Tat zu begehen“, fährt er in gebrochenem Deutsch fort – und gerät wieder ins Plaudern, schweift ab, präsentiert Vages und Nebensächliches. „Wollen Sie nicht weitererzählen, was passiert ist?“, ermuntert ihn Richter Herbert Anderer.

Und A. erzählt: Dass ihm die Terrororganisation Islamischer Staat gefiel, „weil sie Gottes Gesetze befolgen“. Dass er die Taliban nicht mag, weil sie mit den Amerikanern Frieden schlossen und in Wirklichkeit gegen den Islam seien. Dass er „einfach nur töten wollte“ an diesem Freitagmorgen auf dem Mannheimer Marktplatz. Töten wollte er Michael Stürzenberger, den Frontmann jener Gruppe, die durch Deutschland tingelte, sich selbst als islamkritisch bezeichnet und über „den politischen Islam aufklären will“.

Sulaiman A. griff zuerst Stürzenberger an, dann vier weitere Männer, die diesem zu Hilfe eilten. Alle verletzte er teilweise schwer mit seinem Jagdmesser, das er für 14,50 Euro gekauft hatte. „Als ich sah, dass Stürzenberger wieder aufstand, habe ich gedacht: Heute muss einer sterben.“ Er habe schwarze Stiefel vor sich gesehen – die des auf einem Mann knienden Rouven Laur – der A. in dem Chaos den Rücken zukehrte. Laur hatte einen Mann zu Boden gerungen, der auf einen der Helfer schlug. Der Polizist hielt ihn irrtümlich für einen Angreifer. Eine fatale Fehleinschätzung: Erst stach A. in den Nacken des Polizisten, dann in dessen Kopf. Zwei Tage später starb der 29 Jahre alte Schutzmann.

Ermittler zeichnen den Weg in die Radikalität nach

Auch wenn die Richterin und vier Richter des 5. Senats erst an diesem Dienstag nach 35 Verhandlungstagen ihr Urteil sprechen, gilt die Bluttat von Mannheim schon jetzt vielen als Auftakt zum Terrorjahr 2024: Solingen wird folgen, München, der Magdeburger Weihnachtsmarkt – elf Tote und mindestens 337 Verletzte sind es am Jahresende. Hinzu kommt im Januar 2025 der Anschlag in Aschaffenburg mit zwei Toten. Nie wurden mehr Menschen bei Anschlägen in der Bundesrepublik verletzt oder getötet als im vergangenen Jahr. Mehrere Anschläge wurden von den Behörden vereitelt. „Die islamistische Terrorgefahr ist so hoch wie seit langem nicht mehr“, hieß es vom Bundesamt für Verfassungsschutz zum Jahresende.

Für Sulaiman A. zeichneten Ermittler dessen Weg in die Radikalität penibel nach. Sie fanden heraus, dass er bereits im Juli 2021 begonnen hatte, religiöse Inhalte neben Spielfilmen und Serien zu konsumieren. Zudem, dass A. eine eigene Datenbank einrichtete, in der er von Februar 2023 an unter anderem Videos speicherte, „in denen Menschen öffentlich verstümmelt und hingerichtet wurden“. Die Beamten stießen darin zudem auf Kampfvideos des IS, auf Newsletter mit pro-russischen und verschwörungstheoretischen Inhalten.

An der Ehre des Kriminalen kratzt, dass er OR nicht fand

Der Hauptsachbearbeiter des Falls beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg, der Erste Kriminalhauptkommissar Henrik S., reiht in dem Prozess sachlich aneinander, was er und seine Kollegen ermittelt haben: Wie sich A. von November 2022 an einem radikalen Islam zuwandte. Wie er im Netz bei Predigern nachfragte, ob er „Ungläubige töten“ dürfe. Wie er Inhalte verschlang, die die Beamten „verstärkt der Propaganda des IS“ zuordneten.

Der Kriminalbeamte beschreibt minutiös, wie A. vor dem Mannheimer Mord Spuren verschleierte, ein anderes Handy nutzte, sein ursprüngliches vernichtete oder versteckte. Wie er seine Konten in sozialen Netzwerken löschte und kurz vor dem mutmaßlichen Mord in Mannheim seine SIM-Karte zerstörte. Wie nach der Tat im Haus seines Schwiegervaters das Google-Konto des Attentäters gelöscht wurde. Der Kriminalist berichtet vom ominösen Prediger „OR“, der A. drängte, jeder Muslim dürfe, ja müsse gegen „Ungläubige“ vorgehen. Die Spuren „ORs“, schildert S., verloren sich in Kabul. Aber was heißt das schon in einer Zeit, in der jemand virtuell an jedem Ort dieser Welt sein kann? Bis heute kratzt es an seiner Ehre als Ermittler, nicht herausgefunden zu haben, wer der Digitalprediger ist.

ZDF Recherche über merkwürdige Google-Suchen in Russland

Umso mehr verwundert es, dass das LKA eine Recherche des ZDF abkanzelte, laut der in Russland bereits vor dem blutigen Tag in Mannheim bei Google nach einem Terroranschlag in Mannheim gesucht wurde. Das LKA kritisierte, sekundiert durch den Verfassungsschutz und das BKA, die Recherchemethode der Journalisten. Das ZDF hatte mit einem Berater des hessischen LKA und mit dem früheren EU-Koordinator der Nachrichtendienste anerkannte Experten zur Seite. Trotzdem verzichtete das bade-württembergische LKA darauf, auf Basis der Erkenntnisse des ZDF zu ermitteln.

Im Prozess schildert Suleiman A., er habe nachts Videos des IS über den Krieg Israels im Gazastreifen angeschaut, während er neben seiner kleinen, schlafenden Tochter in deren Zimmer lag. Getrennt von seiner Frau, die nebenan im Schlafzimmer mit dem gerade geborenen Sohn schlief.

Lebenslange Haft, Schuldschwere und Sicherungsverwahrung

Nun fällt also das Urteil über Suleiman A.. Verhängen die Richter eine lebenslange Freiheitsstrafe, muss durch ein Gericht nach 15 Jahren geprüft werden, ob der Rest der lebenslangen Haft zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Dafür müsste ein psychiatrischer Sachverständiger den Verurteilten für ungefährlich halten. Die „besondere Schwere der Schuld“ verhindert eine Entlassung nach 15 Jahren und verschiebt diese Entscheidung. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist hingegen keine Strafe. Sondern eine „Maßregel der Besserung und Sicherung“, die sehr strengen Voraussetzungen unterliegt. Vor allem der, dass ein Täter den nachgewiesenen Hang hat, immer wieder schwere Straftaten zu begehen. Suleiman A. attestierte der psychiatrische Sachverständige, dass der Angeklagte nicht den Hang habe, schwere Straftaten zu begehen.

Wie schlüssig ist das? Am Vorabend der Tat schneidet sich Sulaiman A. die Haare, stutzt seinen Bart. Er folgt damit dem Ritual der Selbstmordattentäter der Hamas. Seine Frau hilft ihm dabei. „Ich hoffe, dass Gott uns zu Märtyrern macht“, soll er einmal unter ein Youtube-Video geschrieben haben.

Daran erinnere er sich nicht mehr, sagt A. – um anschließend erneut zu beklagen, wie schlecht er in der Untersuchungshaft behandelt werde. Wie sehr ihn die Folgen des Schusses schmerzten, mit dem ihn ein Polizist in Mannheim stoppte. Richter Herbert Anderer stoppt ihn: „Sie neigen dazu, einige Ereignisse der Tat nach hinten zu verlegen.“