Cover: Jegana Dschabbarowa, "Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt"

Stand: 16.09.2025 06:00 Uhr

2024 musste die aserbeidschanische Dichterin Jegana Dschabbarowa aus Russland fliehen, weil sie lebensbedrohlichen Morddrohungen und Schikanen ausgesetzt war. Sie lebt jetzt in Hamburg und hat ihren ersten Roman veröffentlicht.

von Annemarie Stoltenberg

Jegana Dschabbarowa beschreibt in ihrem Text Körperteile. Sie beginnt mit den Augenbrauen, dann folgen Nase, Mund, Hände, Schultern, Rücken. Jedes einzelne Körperteil ist einem ganzen Konvolut von strengen Vorschriften unterworfen. Es ist nicht nur das Kopftuch. Zum Beispiel die Augenbrauen dürfen erst gezupft werden, wenn eine Frau verheiratet ist. Sie erzählt von der Gesamtheit aller Sinneswahrnehmungen und von der Beschaffenheit des Körpers und den Anforderungen an ihn. Über die Hände, die ja schon im Titel vorkommen, heißt es:

Die wichtigsten Körperteile einer Frau waren die Hände: Sie bereiteten Essen zu, wiegten Kinder, wuschen Wäsche, bügelten Männerhemden, wischten den Boden oder Staub – Frauenhände mussten immer beschäftigt sein, Sorglosigkeit stand nur Männerhänden zu. Während Männerhände träge auf gedeckten Tischen ruhten, brachten Frauenhände Speisen, verteilten Teller, rollten Teig (…), kürzten Säume von Hochzeitskleidern. Jede Frau in unserer Familie wusste, dass die Hände ihr nicht zum Schreiben gegeben waren.

Leseprobe

Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht.

Hunderte Frauen und Mädchen werden in Deutschland Tag für Tag Opfer von körperlicher oder psychischer Gewalt. Aber der Staat unternimmt zu wenig für ihren Schutz, sagt das Deutsche Institut für Menschenrechte und fordert Maßnahmen.

Krankheit als Befreiung und innerer Kampf

Die tausend Vorschriften religiöser und kultureller Art in ihrer Familie erzählen von Unterdrückung, Gewalt und Unterwerfung. Die Ich-Erzählerin entzieht sich den Forderungen Stück für Stück. Sie entkommt den Repressalien durch eine Krankheit, die eine rätselhafte Zerstörung des ganzen Körpers nach sich zieht. Andererseits bedeutet just diese Krankheit etwas, das Ärzte als „Krankheitsvorteil“ beschreiben. Wenn die Ich-Erzählerin körperlich nicht funktioniert, kann sie auch nicht verheiratet werden. Der Druck auf sie wirkt so massiv, dass man sich zu fragen beginnt, wie und woher die innere Gegenwehr, ein anderer Lebensentwurf gespeist sein könnte. Es kann unter anderem der liebevolle Großvater gewesen sein:

Er war es auch, der mit uns sprach: Er nannte den Fluss Fluss, Gras Gras, Schönes schön, den Himmel Himmel und die Erde Erde. Er geizte nicht mit Zärtlichkeit, er trug uns auf seinem Rücken über Bergflüsse, auch als wir längst groß geworden waren. Die wichtigsten Lektionen – wie man liebt, sanft und zärtlich ist, das Schöne sieht, Worte sagt – habe ich von ihm gelernt.

Leseprobe

Wie ihre Hände, Arme und Beine versagen und die Ich-Erzählerin immer wieder ins Krankenhaus muss und den Ärzten Rätsel aufgibt, wird intensiv beschrieben:

Der Schmerz hatte mich böse gemacht und in meine Haut eingesperrt: Mich nervten andere, gesunde Körper, die mühelos sprechen, atmen und sich bewegen konnten, mich nervten Freundinnen, die freudig über ihre Zukunftspläne und ihre neuen Partner sprachen, (…). Ich sah keine Zukunft, denn alles, was meine Augen sehen konnten, war Schmerz, eine weitere Sackgasse meines Körpers, sein Sterben und sein langsames Zerfallen: Ich fühlte, wie ich zu einer Statue wurde, wie ich innerlich versteinerte, wie ich mich in einen trockenen Stein verwandelte, in ein Gefäß für Zorn.

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Mit poetischer Sprache gegen Gewalt und Unterdrückung

Es ist erschütternd, wie sehr die Unterdrückung von Frauen über ihre Körperlichkeit und eben auch den eigenen Umgang der Frauen mit ihren Körpern funktioniert. In einer unendlich zarten, friedfertigen, poetischen Sprache – vorzüglich übersetzt von Maria Rajer – erzählt Jegana Dschabbarowa von brutalen und finsteren Zuständen.

Jegana Dschabbarowa stellt ihr Buch am 17. September im Literaturhaus Hamburg vor – im Gespräch mit Olga Grjasnowa.

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