Frankreich, das Land der fortwährenden Revolte. Gerade erst hat eine diffuse Bewegung (Bloquons tout) versucht, Verkehr und Handel lahmzulegen; nun sind die Gewerkschaften an der Reihe. Falls Sie vorhatten, an diesem Donnerstag nach Frankreich zu reisen, verschieben Sie besser Ihre Pläne. Es wird wieder einmal gestreikt. Noch eine Woche später rollen die Traktoren, der führende Bauernverband hatte am 26. September zu einem „großen Aktionstag“ aufgerufen. Und selbst der Präsident des vornehmen Unternehmerverbandes drohte am vergangenen Wochenende mit Protesten, falls diese oder jene Forderung seines Verbandes nicht erfüllt würde.
Aufruhr, wohin man schaut. Die widerspenstigen Gallier machen ihrem Ruf alle Ehre. Der neu ernannte Premierminister Sébastien Lecornu ist nicht zu beneiden.
Von Deutschland aus blicken wir mal mit Bewunderung und mal mit Entsetzen auf den unruhigen Nachbarn im Westen. Toll, die Französinnen und Franzosen lassen sich nichts gefallen! Um Himmels willen, schon wieder Randale auf den Champs-Élysées!
Tatsächlich gehören die brennenden Mülltonnen und berstenden Schaufensterscheiben zur französischen Folklore. Die „Straße“ ist eine politische Institution, seit die Bürgerinnen und Bürger den König 1789 erst aus dem Schloss in Versailles geholt und später hingerichtet haben. Das historische Erbe verpflichtet – ohne die Straße gäbe es keine Republik. Trotzdem stellt sich in diesen Tagen die Frage: Was soll das? Oder besser: Was bringt das?
Proteste in Frankreich
Regierungssturz in Frankreich:
Droht jetzt die nächste Eurokrise?
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Frankreichs Kampf um Kontrolle
Proteste in Frankreich:
Diffuse Wut, viel größer als erwartet
Mit großer Zuverlässigkeit produzieren die Proteste in Frankreich immer dieselben Bilder, die dann in den Nachrichtenkanälen und sozialen Medien in Endlosschleifen wiederholt werden. So war es auch in der vergangenen Woche: Demonstranten, die mit Mülleimern nach Polizisten werfen; ein angezündeter Bus in Rennes; Tränengas rund um den Platz der Republik in Paris. Fast möchte man darauf wetten, dass auch an diesem Donnerstag, wenn die Gewerkschaften demonstrieren, wieder irgendetwas in Flammen aufgeht.
© Lea Dohle
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Man muss die Bereitschaft zur Gewalt und die Lust an der Zerstörung nicht verharmlosen, übrigens auch nicht die Übergriffe der französischen Polizei, um festzustellen, dass es sich bei solchen Protesten nicht um eine Volkserhebung handelt. „Ich kenne mein Volk“, hatte der Anführer der radikalen Linken, Jean-Luc Mélenchon, vor den Protesten der vergangenen Woche geraunt und „eine große revolutionäre Bürgerbewegung“ angekündigt. Aber Mélenchon sei kein Lenin, stellt die Historikerin Marion Fontaine in der Tageszeitung Le Monde kühl fest: „Wenn man zur Revolution aufruft oder jedenfalls zu einem Aufstand, muss das glaubwürdig sein.“ Anderenfalls, so Fontaine, laufe man Gefahr, der anderen politischen Seite in die Hände zu spielen. Also denen, die mit jeder brennenden Mülltonne den Untergang des Landes beschwören und darauf eine harte Reaktion verlangen.
Protest wird für manche zum Selbstzweck
Demonstrationen und Streiks werden in Frankreich meist von Linken organisiert. Für manche von ihnen ist der Protest zu einer Lebensform geworden, zu einer Art Glaubensbekenntnis. Im Frühjahr 2023, als in Frankreich monatelang gegen eine geplante Rentenreform demonstriert wurde, habe ich einen Gewerkschafter begleitet, einen pensionierten Lehrer. Er ging zu den Kundgebungen mit derselben Routine wie ein gläubiger Christ zum Gottesdienst. Er trug immer dieselbe Jacke, dieselbe Jeans, dieselben Schuhe. Er traf auf den Demonstrationen immer dieselben Bekannten, gemeinsam wiederholten sie die immer selben Formeln. Die Regierung wollte damals das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anheben. Erreicht haben die Proteste dagegen nichts. Ich hatte den Eindruck, mein Gewerkschafter hatte damit auch gar nicht gerechnet. Der Protest war in gewisser Weise zu einem Selbstzweck geworden. Die Wut, aus der er sich speiste, lief leer. Hauptsache, man war dagegen und auf der Straße.
Ähnlich ist es auch jetzt. Bloquons tout richtete sich ursprünglich gegen die Sparpläne des früheren Premierministers François Bayrou. Dieser verlor allerdings am 8. September im Parlament die Vertrauensabstimmung und reichte daraufhin seinen Rücktritt ein; der Protest zwei Tage später fand trotzdem statt. Etwa 200.000 Menschen im ganzen Land beteiligten sich daran. Auch die Gewerkschaften verbinden ihren Aufruf zu Streiks und Demonstrationen an diesem Donnerstag mit einer Petition unter dem Slogan Stop Budget Bayrou. Dass Bayrou gar nicht mehr im Amt ist? Macht nichts, heißt es. Lecornu, der neue Premierminister, wolle schließlich auch sparen.
Der Politikwissenschaftler Vincent Martigny hat darauf hingewiesen, dass Wut in der Geschichte oft ein Auslöser für soziale Bewegungen gewesen sei. Heute hingegen blieben die Bewegungen dabei stehen, die Wut sei oft das einzige Motiv. Aber „Wut ist kein Programm“, schreibt Martigny: „Aus Groll ist noch nie eine neue Welt entstanden.“ Das gelte zumal in einer Zeit, in der die Wut politisch vor allem von Extremisten bewirtschaftet werde. Ähnlich wie die Historikerin Fontaine warnt auch Martigny davor, dass die eigentlichen Nutznießer der Proteste, selbst wenn sie sich nicht daran beteiligen, extrem rechte Parteien sein könnten. In Frankreich ist das vor allem der Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen.
Immerhin hat der Chef des französischen Unternehmerverbandes Patrick Martin seine Drohungen mittlerweile relativiert. Er will verhindern, dass die neue Regierung – außer dem Premier ist sie noch gar nicht ernannt – Steuern erhöht, statt zu sparen. Denn auch bei vielen Unternehmen sind Wut und Sorgen groß. „Unsere Rolle ist es, die Unzufriedenheit der Firmenchefs zu kanalisieren“, sagt Martin. Auf die Straße gingen diese aber nicht.