Zumal Christina Cantarell nicht nur Frau ist, sondern auch aus dem Ausland stammt und fachlich auf den ersten Blick nicht viel mit Klangquellen und Signalverarbeitungs-Chips zu tun hat. Ihren Bachelor hat die in Barcelona aufgewachsene Mutter von zwei Töchtern in Chemie gemacht, im Anschluss kam ein Master in medizinischer Kommunikation in den Karriere-Rucksack – keine Themen, bei denen sich Hörakustik-Ingenieure und Marketing-Experten normalerweise zu Hause fühlen.
Der Kaffeeautomat in der Chefetage flog schon in der ersten Woche raus
Vermutlich allerdings ist exakt das auch der Grund, weshalb Sonova bei der Suche für den Deutschland-Chefposten auf die 44-jährige Spanierin kam. Christina Cantarell, nach erfolgreich absolviertem Studium bei Microsoft ins Berufsleben gestartet, werden ausgezeichnete Kommunikationsfähigkeiten nachgesagt – und das Talent, zwischen den Interessen verschiedenster Fachbereiche zu vermitteln.
Seit 2017 ist die sechs Sprachen beherrschende Geschäftsführerin im Unternehmen, sie hat die Tochterfirma Unitron in Spanien und Portugal geleitet und sich als Chefin des spanischen Sonova-Ablegers intern einen Ruf als erfolgreiche Managerin mit menschlicher Note gemacht. „Wenn sie einen fragt, wie es einem geht, ist das nie nur eine Floskel, sondern immer ehrliches Interesse“, sagen Mitarbeiter über die Frau aus Barcelona.
Erzählt wird auch, dass der Kaffeeautomat auf der Chefetage nach dem Dienstantritt von Cristina Canterell nur noch eine extrem verkürzte Lebenszeit hatte. Nach nur einer Woche flog die Maschine raus – nicht, weil sie einen nur labbrigen Cortado fabriziert hätte, sondern sich die Geschäftsführerin auf dem Weg in die tieferen Etagen mehr Kontakt mit den Mitarbeitern erhoffte.
Seit gut einem Jahr ist Cristina Cantarell bei Sonova Deutschland, einer Firma, die unter diesem Namen kaum jemand kennt. Geläufig ist das Unternehmen allenfalls Radsport-Enthusiasten, außerhalb der Hörakustik-Branche wissen die wenigsten etwas mit dem Unternehmen anzufangen. Die Deutschland-Zentrale mit ihren immerhin 120 Mitarbeitern sitzt vergleichsweise versteckt in einer Seitenstraße im Gewerbegebiet des Fellbacher Teilorts Oeffingen – kein Ort, an dem man einen führenden Hörgerätehersteller mit neunstelligen Umsatzzahlen vermuten würde.
Für die meisten Menschen ist ein Hörgerät mit den Attributen „alt, krank und taub“ verbunden. Foto: dpa
Das liegt zum einen daran, dass sich Sonova nicht im Endkundengeschäft tummelt, sondern den Fachhandel mit seinen Produkten beliefert. Zum anderen sind Verbrauchern allenfalls die Markennamen bekannt, mit denen die Sonova ihr Geld verdient. Zum Hörgeräte-Portfolio gehören die etablierten Marken Phonak, Unitron und Hansaton sowie das auf implantierbare Systeme spezialisierte Kundensegment Advanced Bionics.
Mit den Produktreihen und weltweit 18 000 Beschäftigten hat die in Stäfa in der Schweiz sitzende Sonova Holding vergangenes Jahr einen Umsatz von fast 4,2 Milliarden Euro gemacht, der Gewinn lag weit über der 500-Millionen-Euro-Marke. Das Wachstum hängt mit dem demografischen Wandel zusammen, die Hörgeräte-Branche profitiert von einer älter werdenden Gesellschaft. Steigerungsraten von vier Prozent und mehr stehen bei Sonova in den Büchern.
Und der Markt hat noch viel, viel mehr Geld zu bieten. „In Deutschland leiden etwa neun Millionen Erwachsene an einem Hörverlust. Es tragen aber nur vier Millionen Menschen auch ein Hörgerät“, sagt Cristina Cantarell.
Das liegt zum einen an der Scham, auf technische Hilfsmittel angewiesen zu sein. Zum anderen stehen Hörhilfen – anders als etwa Brillen – noch immer für das Thema Alter.
Den KI-Chip Deepsonic hat Sonova an 22 Millionen Klangbeispielen trainiert
„Niemand steht morgens auf und sagt: Schatz, heute gehen wir Hörgeräte kaufen“, bringt die Spanierin die Vorbehalte der Kundschaft auf den Punkt. Nein, ein Hörgerät trägt niemand wegen knallig bunter Farben oder modischer Designs. Ein Hörgerät besorgt man sich nur, wenn man es braucht. Dabei könnten Entwicklungen wie der KI-Chip Deepsonic, der für mehr Sprachklarheit an mehr als 22 Millionen Klangbeispielen trainiert ist, um unerwünschte Störgeräusche auszufiltern, durchaus auch Technik-Freaks begeistern.
Ein Training bekam übrigens auch die neue Chefin, als sie mit ihrem als Sicherheitsingenieur in der Kosmetikbranche arbeitenden Mann und den beiden Töchtern nach Waiblingen gezogen ist. Per Kurzlehrgang wurde die Spanierin über Kehrwoche und kulturelle Unterschiede aufgeklärt.
Die Direktheit der Deutschen beispielsweise ist für Südeuropäer eher ungewohnt. „In Spanien baut man im Gespräch erst eine Beziehung auf, bevor es ums Geschäft geht, aber Deutschland ist ein Faktenland“, sagt Cristina Cantarell über die Eingewöhnung an vermeintlich fehlende Umgangsformen.
Auch dass Überpünktlichkeit kein Zeichen für eine Panikattacke sein muss, musste die Top-Managerin erst lernen. „In Spanien ist es auch noch pünktlich, wenn man sich um 10.03 Uhr in ein Video-Meeting schaltet, das auf 10 Uhr angesetzt ist. In Deutschland sind viele Kollegen aber auch schon um 9.58 Uhr online präsent. Am Anfang dachte ich echt, die zittern alle vor mir“, erzählt sie.
„Man braucht nicht megakluge Leute. Man braucht Menschen, die sich wohlfühlen“
Inzwischen allerdings weiß Cristina Cantarell nicht nur um die Eigenheiten ihrer Mitarbeiter, sondern auch, dass man sich in Deutschland in eine Warteschlange stellen muss, bis man beim Einkauf an der Reihe ist. Als größten Erfolg ihrer Startphase in Oeffingen nennt sie bezeichnenderweise nicht die wachsenden Marktanteile, sondern das Ergebnis einer Mitarbeiterumfrage.
Die hat Sonova Deutschland auch im internen Vergleich Top-Werte bei der Zufriedenheit mit dem Arbeitgeber und einer äußerst geringen Fluktuationsrate beschert. „Man braucht nicht megakluge Leute. Man braucht Menschen, die sich wohlfühlen“, sagt Cristina Cantarell.