Es ist ein eher unauffälliger Grünstreifen an der Ecke Reinsburgstraße/Rotenwaldstraße im Stuttgarter Westen. Bäume und Sträucher schützen leidlich gegen den Straßenraum. Und doch organisierten die Stuttgarter Konzeptkünstlerinnen Ann-Kathrin Müller und Judith Engel hier im engen Dialog mit dem Künstlerhaus Stuttgart und der Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber, im vergangenen Jahr eine „Summer School“ mit hohem Anspruch. Das Hören und Debattieren im quasi öffentlichen Hörsaal galt einem öffentlich wenig bewussten Teil der Stuttgarter Stadtgeschichte nach 1945: die Situation polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender.
An diesem Mittwoch, 17. September, schließt sich auf dem Areal zwischen der Reinsburgstraße und der Rotenwaldstraße ein Kreis. Als „Summer School ,Stuttgart, Reinsburgstrasse’“, als Kunstprojekt im öffentlichen Raum begonnen, wird das Areal nun – nahezu zeitgleich mit einer Neubestimmung der ebenfalls künstlerisch motivierten Aufarbeitung der mit dem Killesberg-Park bis heute weiter existenten Widersprüche zwischen Erholung und Qual – zu einem Schlüssel in der Neubewertung jüdischen Lebens und Leidens in Stuttgart. Um 16.30 Uhr wird das Areal am Mittwoch, 17. September, mit Reden von Baden-Württembergs Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Stuttgarts Erstem Bürgermeister Fabian Mayer als Shmuel-Dancyger-Platz eingeweiht.
Die Leiche Shmuel Dancygers wird abtransportiert Foto: Archiv des Jüdischen Museums, Berlin
Der neue Namen erinnert an den Shmuel Dancyger. Offiziell heißt es über die Hintergründe des neuen Platznamens: „In der ehemaligen Reinsburg- und Klugestraße lebten nach Ende des Zweiten Weltkriegs hunderte polnisch-jüdische Holocaust-Überlebende. Eine Rückkehr in ihre Heimat war wegen antisemitischer Pogrome nicht möglich. Daher wurden sie bis Mitte 1949 als sogenannte „Displaced Persons“ (DPs) unter amerikanischen Schutz gestellt und in beschlagnahmten Wohnungen untergebracht. Während sie von der lokalen Bevölkerung häufig Ablehnung erfuhren und auf eine baldige Emigration nach Israel/Palästina oder in die USA hofften, bauten die „Displaced Persons“ im Stuttgarter Westen ein vielfältiges Alltagsleben auf. Auf das DP-Camp in der Reinsburgstraße weist seit einigen Jahren eine Informationsstele hin, die nun erweitert und ein zentrales Ereignis in den Fokus rücken wird: Am 29. März 1946 drangen mehr als 200 bewaffnete Polizisten in die Unterkünfte der DPs und führten eine antisemitisch motivierte, gewaltsam Razzia durch. Als die Bewohner sich wehrten, eröffneten die Polizisten das Feuer. Dabei kam der 36-jährige Shmuel Dancyger zu Tode, drei weitere Menschen wurden verletzt. Für die Tat wurde in der Folge niemand zur Rechenschaft gezogen.“
Ein Buch dokumentiert die „Tödliche Razzia“
Auch Howard Dancyger, Enkel von Shmuel Dancyger, wird bei der Einweihung dabei sein. Erlebt hat er bereits, dass rund um die Einweihung die „Summer School Reinsburgstraße“ fortgesetzt wird, dass also die Sichtung und Aufarbeitung unterschiedlichster Materialien weiter geht. Ein Meilenstein war hier bereits das 2024 in der Reihe „Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart“ erschienene Buch „Tödliche Razzia. Antisemitismus, Polizeigewalt und die Erschießung eines Auschwitz-Überlebenden in Stuttgart 1946“ der Historikerin Io Josefine Geib.
Von dem neuen Shmuel-Dancyger-Platz aus, das lässt sich jetzt schon sagen, wird die Aufarbeitung jüdischen Lebens in Stuttgart nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai 1945 weitergehen. Auch und gerade im Stuttgarter Westen, der doch bis 1933 nicht nur etwa in der Bismarckstraße durch jüdisches Bürgertum mit geprägt wurde. Ausgrenzung, Erniedrigung, Vertreibung und die vom Nordbahnhof aus rollenden Transporte in deutsche Todesfabriken auf polnischem Gebiet sind historisch dokumentiert – und doch braucht es gerade die Neubewertung und Rückkopplung an die Gegenwart, um Erinnerung nicht zu einem eher fragwürdigen Ritual werden zu lassen.
„Würdige Erinnerung“ an Shmuel Dancyger
Shmuel Dancyger, im polnischen Radom geboren, hatte in Stuttgart erst kurz vor den nie gesühnten tödlichen Schüssen seine Frau Regina und seine beiden Kinder wiedergefunden. Alle vier hatten das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Shmuel Dancyger ist im jüdischen Teil des Steinhaldenfeld-Friedhofs in Stuttgart begraben. „Um würdig an Shmuel Dancyger zu erinnern“, heißt es von Seiten der Stadt Stuttgart, „wird der Platz am oberen Ende der Reinsburgstraße nun nach ihm benannt“.