Während der Krieg in der Ukraine andauert, richtet sich der Blick zunehmend auf die möglichen Folgen für die Nachbarstaaten. Verletzungen des europäischen Luftraums durch russische Raketen, Drohnenangriffe auf polnisches Gebiet und die Sorge um Moldawien werfen Fragen zur Stabilität der NATO-Ostflanke auf. Im Gespräch erläutert der schwedische Historiker Dick Harrison, der im Vorjahr im Rahmen der Vorlesungsreihe “Nordic Perspectives on Russia” des Exzellenzclusters „EurAsian Transformations“ Gast der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien war, warum er keine unmittelbare Ausweitung des Konflikts auf Polen oder die baltischen Staaten erwartet – und warum Moldawien dennoch in einer heiklen Lage steckt.
Moldawien als nächstes Opfer?
Herr Harrison,wie bewerten Sie die jüngsten Drohnenangriffe auf Polen für die europäische Sicherheit?
Dick Harrison: Alle Arten von militärischen Angriffen sind ernst, aber die Bedrohung sollte nicht überbetont werden. Die Drohnenangriffe stellen eine Warnung dar – eine ernste Warnung – aber sie sind kein Teil einer Invasion. Ähnliche – und schlimmere – Angriffe hat es in anderen Teilen der Welt gegeben, von Ländern, die nicht im Krieg mit den angegriffenen Staaten stehen (und auch keinen Krieg mit ihnen planen), zum Beispiel im Nahen Osten.
Die Drohnenangriffe stellen eine Warnung dar.
Von Luftraumverletzungen durch russische Flugkörper liest man seit Beginn des Kriegs in der Ukraine öfter. Sind das Zufälle oder gewollte Provokationen?
Harrison: Natürlich. Sie sind eindeutig gezielt. Die Russen nutzen sie als Warnungen und als Mittel, Botschaften an den Rest der Welt zu übermitteln, etwa: „Lasst uns in Ruhe“, „Haltet euch aus diesem Konflikt heraus“, „Wir beobachten euch“ und so weiter.
Welche Länder sind davon besonders gefährdet, und wie begegnen sie der Bedrohung?
Harrison: Trotz der geografischen Nähe zu Russland halte ich die baltischen Staaten und Polen nicht für besonders gefährdet: Sie sind durch ihre NATO-Mitgliedschaft geschützt, zudem verfügt Polen über eine starke Verteidigung. Ganz anders stellt sich die Lage für Moldawien dar: Ohne den Schutzschirm der NATO und mit einer beträchtlichen russischen Militärpräsenz an seiner Grenze – insbesondere in Transnistrien – ist das Land weitaus verwundbarer.
NATO reagiert umsichtig
Wie bewerten Sie die bisherigen Reaktionen der NATO?
Harrison: Umsichtig und vorsichtig. Es liegt nicht im Interesse der NATO, einen Konflikt zu provozieren.
Es liegt nicht im Interesse der NATO, einen Konflikt zu provozieren.
Erwarten Sie, dass die NATO-Ostflanke weiter gestärkt wird – auch als Folge der Luftraumverletzungen?
Harrison: Ja. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind bereits Maßnahmen eingeleitet worden – nicht allein als Reaktion auf die militärische Bedrohung, sondern auch, um der Bevölkerung in den Grenzregionen ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen zu vermitteln.
Können sich die nordischen und osteuropäischen Länder auf den Schutz durch EU und NATO verlassen?
Harrison: Zweifellos. Die nordischen und osteuropäischen Länder können auf den Rückhalt von EU und NATO bauen: Schon heute sind westliche Truppen in den baltischen Staaten präsent, und durch gemeinsame Trainingsprogramme verzahnen sich die Verteidigungsstrukturen der Mitgliedsstaaten immer stärker. Ungeachtet der „America First“-Rhetorik in Washington ist es höchst unwahrscheinlich, dass ein US-Präsident Nord-, Ost- oder Mitteleuropa preisgibt. Es gibt zu viel zu verlieren.
Ich glaube nicht, dass Putin ernsthaft eine Invasion in Polen, Finnland oder die baltischen Staaten plant.
Ist zu befürchten, dass Russland bereits ein neues Angriffsziel für die Zeit nach dem Ukrainekrieg im Blick hat?
Harrison: Ich würde sagen nein, nicht wirklich. Die durch den Krieg in der Ukraine verursachte Belastung für Russland sowie die Tatsache, dass jeder Angriff auf ein NATO-Mitglied einen Krieg mit allen anderen NATO-Mitgliedern nach sich ziehen könnte, machen es höchst unwahrscheinlich, dass die Kreml-Führung neue Angriffe plant. Natürlich gibt es Einsatzpläne für solche Kriegsszenarien (die gibt es immer), aber ich glaube nicht, dass Putin ernsthaft eine Invasion in Polen, Finnland oder die baltischen Staaten plant. Das Risiko wäre zu hoch. Die eine Ausnahme könnte Moldawien sein – ein kleiner Staat mit schwacher Verteidigung, an der Grenze zur Ukraine und zu Transnistrien.