Er hätte sie überrascht. Wäre da nicht die Treppe in Block F1 gewesen. Vermutlich wollte Drake, der kanadische Popstar, ganz plötzlich zwischen seinen Fans in den Zuschauerrängen der Olympiahalle auftauchen. So ein Entrance sollte es werden. Vom Dach der Halle wollte er nicht abgeseilt werden. Nicht aus dem Bühnenboden hinaufgeschossen. Sondern, wenn das Licht nach der üblichen Verdunkelung wieder angeht, zwischen ihnen stehen wie einer, der aus der Geburtstagstorte springt. Und wahrscheinlich hätte das geklappt. Wäre da nicht diese Treppe gewesen.
Die dreistufige Passage, die Zuschauerraum mit der Bühnenkonstruktion verbindet, einem Laufsteg aus Plexiglas, der wie ein Ring den Innenraum umrundet. Und so sind die Smartphones schon auf Block F1 gerichtet, bevor sich Drake als große Überraschung in Block F1 einfinden kann, die niemanden groß überrascht.
Er kommt trotzdem. Zwar nicht um 21 Uhr, sondern 21:49 Uhr, aber: er kommt. In Glitzershirt mit Ausschnitt. Zwischen Brusthaaren ein Eulentattoo. Auf dem Handrücken eine Tintenspinne. Im Ohrläppchen ein Brillantohrring. Die Haare zu Cornrose geflochten. Drake sieht aus wie ein Superstar. Er hat die Aura eines Superstars. Den Lebenslauf sowieso: fünf Grammys, fast 100 Milliarden Streams, in fünfzehn Jahren war er an vierzehn Alben beteiligt, die in den amerikanischen Charts auf Platz 1 standen.
Am Dienstagabend spielt er zum ersten Mal in München. Die erste von drei Shows vor rund 13 000 Menschen. Am Ende des Konzerts werden es fast vierzig Songs sein, die er in kaum zwei Stunden performt wie eine Extended-Version einer Super-Bowl-Halftime-Show. Mit Feuer. Pyro. Kostümwechseln. Dem amerikanischen Selbstvertrauen eines Mannes aus Toronto. „I go by the name Drake, if you don’t know“, stellt er sich grinsend vor wie nur Drake grinsen kann, weil alle seinen Namen sowieso kennen.
Ein Thema wird Drake an diesem Dienstagabend elegant auslassen. Die Streitigkeiten mit einem anderen Rap-Superstar: Kendrick Lamar. Die eskalierten 2024 in einem Beef, der als die „Drake-Kendrick-Feud“ in die Hip-Hop-Geschichte eingegangen ist. Interessant ist, welche Lieder er nicht performt: „First Person Shooter“. Und: „Family Matters“.
Die Songs, die Drake als Angriff oder Verteidigung im Kampf sprachlicher Großmäuligkeit mit Dauerrivalen Kendrick Lamar geschrieben hat. Die Männer beschuldigen sich gegenseitig künstlerischer Nichtsnutzigkeit, sexueller Belästigung, pädophiler Neigungen, häuslicher Gewalt und unehelicher Kinder. Der Zwist zwischen den Labelkollegen gipfelte vor einem New Yorker Gericht. Drake verklagt sein Musiklabel, Kendrick Lamar mit illegalen Methoden zu helfen, den Disstrack „Not Like Us“ zum Welthit zu machen.
Der Ausgang des Verfahrens gegen Universal ist noch offen. Was ein Grund sein könnte, warum Drake an diesem Abend andere Lieder vorzieht. Er präsentiert in der Olympiahalle die größten Hits aus fünfzehn Jahren seiner Weltkarriere. Den R’n’B seiner Anfänge, die Dancehall-Variationen aus Hits wie „Passion Fruit“, den rougheren Trapsound, aber auch Pophits wie „Nice For What“.
Im Laufe des Konzerts wird klar, was für ein Entertainer er ist. Und dass nicht nur, weil er eine Grundregel des amerikanischen Unterhaltungsgewerbes beherrscht: in Bewegung bleiben. Er läuft, während er singt. Er läuft, während er rappt. Er läuft, während er die Halle grundunsympathisch anstachelt, gegen all die Verflossenen kollektiv den Mittelfinger in die Luft zu strecken, die – selbstverständlich, na klar – auschließlich selbst und ausschließlich allein das Problem gewesen wären. Allerfeinstes „Walk-and-Talk“. Drehbuchautor Aaron Sorkin, der Vater dieser Idee, wäre stolz. Auch wenn ihm die Treppe zu Block F1 wohl missfallen hätte.