Die schönsten Geschichten liegen auf der Straße, sagt man. Manchmal hängen sie auch an einem Baum. So wie im Fall des 1995 verstorbenen Stuttgarter Malers Hermann Hübsch, der große Teile seines 95-jährigen Lebens im Wald verbrachte, dem Weidach- und Zettachwald oberhalb des Körschtals unweit des Pressehauses in Möhringen. Dort, mitten im Wald, befand sich seine Hütte, in der er mehr als 50 Jahre lang lebte, immer von Montag bis Donnerstag, und dort über Gott und die Welt und die Natur im Speziellen nachdachte, Flöte spielte und sich am Dasein freute. Ein Ort, den er mitsamt den von ihm angelegten und bestellten Gemüsebeeten und einem selbst gemauerten, kleinen Schwimmbad sein „Gütle“ nannte – und den es nicht mehr gibt.

Dort, an einem Baum oberhalb des verschwundenen „Gütle“, an das heute nur noch eine Bodenplatte erinnert, hängt ein Zettel, auf dem ein gewisser P. Zügel nach „Bildern und Kunstwerken des 1901 in Lucine in Schlesien geborenen und 1995 in Stuttgart verstorbenen Kunstmalers Hermann Hübsch“ fragt. Er wolle „ein digitales Archiv des künstlerischen Nachlassens von Herrn Hübsch erstellen“, steht dort zu lesen. Es gehe ihm um Nachweise zu „Ölbildern, Aquarellen, Kompositionen, Skulpturen und Kreide- und Federrohrzeichnungen“. Abgebildet ist auch die zweistöckige Hütte, die Hermann Hübsch von der Universität Hohenheim gepachtet hatte und kurz nach Kriegsende bezog. Er bemalte sie außen mit Fresken und verzierte sie innen mit Mosaiken aus Trümmern. Strom und Wasser gab es nicht; Hübsch heizte mit Kohlen, morgens wusch er sich an einem Wassertrog. Fotografien zeigen einen hageren, kleinen Mann mit lichten, weißen Haaren. Sie erinnern an einen Asketen.

Fast das gesamte Frühwerk ging im Krieg verloren

Doch die Geschichte von Hermann Hübsch führt über diesen Wald und die Einsiedelei hinaus. Sie führt nach Heslach, wo er seinen offiziellen Wohnsitz hatte. Sie führt zu seinem Gesundbrunnen, das Mineralbad Leuze, das er immer freitags besuchte, und in die Ameisenbergstraße, wo sich sein Atelier befand, das ihm die Stadt nach dem Krieg zur Verfügung gestellt hatte. Samstags war sein Maltag.

Hübschs Geschichte führt auch auf die Schwäbische Alb, auf der er mit seiner Frau Doris sonntags auf Malwanderungen unterwegs war, und nach Bergell in Graubünden, eine Landschaft, die er liebte und der er zahlreiche Bilder widmete. Überhaupt war er höchst produktiv. Mindestens 1500 Arbeiten von ihm sind erhalten; sie bilden aber nur einen Ausschnitt seines Ouevres. Fast sein gesamtes Frühwerk ging im Krieg verloren; ein Bombenangriff 1944 zerstörte Hübschs damaliges Atelier in der Birkenwaldstraße.

Seine Geschichte führt auch zu jenem Peter Zügel, der das DIN-A4-Blatt an den Baum im Weidach- und Zettachwald heftete, einem 58-jährigen ehemaligen Berufsschullehrer und früheren Nachbarn von Hermann Hübsch in Heslach, wo Zügel heute noch wohnt. Die Begegnung mit dem Maler und Menschen sei für ihn eine „prägende Erfahrung“ gewesen, sagt er. Seine Eltern erwarben für ihn und seine beiden Geschwister schon früh einige von Hübsch Bildern. Oft saß er als junger Mann mit ihm zusammen. Sie sammelten Teekräuter oder besorgten Holz für die Bilderrahmen, die der Maler selbst anfertigte. Als Hübsch 1990, damals bereits 90 Jahre alt, sein „Gütle“ im Wald altershalber auflöste, half er ihm beim Auszug. Das digitale Archiv, das er anlegen und der Öffentlichkeit zugänglich machen will und für das er weitere Hinweise auf Arbeiten des Künstlers sucht, sieht er als Ausdruck von Wertschätzung für dessen Leben und Wirken an.

In hohem Alter erfand er sich als Künstler neu

Dieses Leben war nicht nur reich an Bildern, sondern auch an Ereignissen und Begegnungen. Bevor er Kunstmaler wurde, erlernte Hübsch das Malerhandwerk. Er ging auf Wanderschaft und wechselte das Metier. An der Universität Düsseldorf nahm er Mal- und Zeichenkurse, ebenso an der Universität Tübingen. Von 1926 bis 1932 studierte er an der Kunstakademie in Stuttgart. Fortan war er freischaffender Künstler. Es folgten die Kriegsjahre und die Einberufung in die Wehrmacht. An der Ostfront geriet Hübsch in Gefangenschaft. Nach seiner Entlassung 1946 zählte er zu den Mitbegründern der Freien Kunstschule Stuttgart, wo er bis 1956 lehrte – wenn er sich nicht in seinem „Gütle“ oder seinem Atelier aufhielt. 1947 schloss er sich der „Stuttgarter Sezession“ an.

Nicht alles, was er machte, war in strengem Sinne Kunst. Hübsch malte Schilder und porträtierte Familien – Auftragsarbeiten. In den 1950er und 1960er Jahren übernahm er etliche Kunst-am-Bau-Aufträge und fertigte die für die damalige Zeit charakteristischen in Putz geritzten großformatigen Bilder an, die bis heute viele Häuserfassaden zieren, sogenannte Sgraffiti. Das Foyer der Stuttgarter Nachrichten in der Räpplenstraße, wo die Zeitung von 1964 bis 176 ihren Sitz hatte, gestaltete er großflächig mit Mosaiken aus. Und er entwickelte sich immer weiter. In seinem Spätwerk findet sich nichts Figürliches mehr. Hübschs Kunst wurde abstrakt, collagenartig. Er experimentierte mit Applikationen und Farbflächen. Seine letzte Ausstellung hatte er 1994 im Stuttgarter Rathaus. Hermann Hübsch war damals 94.

Die große Liebe zwischen Doris Schoettle und Hermann Hübsch

Ein wesentlicher Teil seiner Geschichte ist durch seine Frau geprägt, Doris Schoettle, Tochter von Helene und Erwin Schoettle, zwei Namen, bei denen man in Stuttgart die Ohren spitzt. Erwin Schoettle (1899 – 1976), Widerstandskämpfer im Exil, SPD-Größe und später Bundestagsvizepräsident, war 1946 Mitherausgeber der Stuttgarter Nachrichten. Seine Frau Helene (1903 – 1994), die große Dame der Stuttgarter SPD, baute für die Arbeiterwohlfahrt nach dem Krieg ein Netz an Nähstuben auf und war Mitbegründerin des Vereins Lebenshilfe für geistig Behinderte. Die Schoettles haben große Fußspuren in der Stadt hinterlassen.

Ihre Tochter Doris wurde 1928 geboren. An der Freien Kunstschule lernte sie den 27 Jahre älteren Hermann kennen. Sie war seine Schülerin. Und wurde seine Lebensgefährtin – anfangs ein schwieriges Thema im Hause Schoettle, wie Peter Zügel weiß. Ein Internat-Aufenthalt in England sollte bei Doris ein Nachdenken bewirken. Doch die Liebe war stärker. 1961 heirateten die beiden. 1963 wurde ihr Sohn Mathias geboren. Das Schoettle-Haus in Heslach bildete das gemeinsame Dach. Nach dem frühen Tod von Doris Schoettle 1988 wohnte der vom Tod seiner Frau gezeichnete Hermann Hübsch dort mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwiegermutter. Das letzte Lebensjahr verbrachte er in der Bopserwaldstraße, wo er vor 30 Jahren bei einem Saunabesuch starb.

Ein Zeitdokument: Bleistiftzeichnungen von Kriegsgefangenen

Hermann Hübsch hat seine Lebensbegleiter in Bildern festgehalten: Helene Schoettle, Erwin Schoettle – von ihnen existieren mehrere Porträts. Und natürlich seine geliebte Doris. Ein Zeugnis dieser innigen Beziehung ist ein farbenprächtiges Gemälde des Hochzeitsstraußes der Eheleute Hübsch, das ebenfalls erhalten geblieben ist. Porträtiert hat er auch einen befreundeten Mit-Leuzeaner, der sich beim Anblick des Bildes allerdings so schlecht getroffen fühlte, dass er Hübsch die Freundschaft aufkündigte, wie Zügel schmunzelnd erzählt. Der Sohn des Porträtierten fand später übrigens: „Genau so sah er aus!“

Und dann gibt es da noch eine ganz andere Sorte Porträts – Bleistiftzeichnungen aus dem Kriegsgefangenenlager Kreuzburg bei Breslau. Mehr als 100 Mitgefangene hat Hermann Hübsch dort zwischen Mai und August 1945 porträtiert, die Blätter mit Datum versehen und auf der Rückseite die Namen der Soldaten notiert. „Die Zeichnungen stellen ein einzigartiges Zeitdokument dar“, schrieb Peter Zügel vor einem Jahr in einem Brief an das Stuttgarter Kulturamt: „In den erschöpften, freudlosen und ausgemergelten Gesichtern, spiegelt sich die Grausamkeit, Trostlosigkeit und Sinnlosigkeit des Krieges wider.“ Einige Gesichter ließen aber auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft erahnen. Vielleicht könnten die Bilder dazu beitragen, die heutigen Generation an das Nie wieder zu erinnern, schrieb Zügel weiter: „Es wäre schön, wenn sie Teil einer Ausstellung zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung vom Naziterror am 8. Mai 1945 sein könnten.“

Eine Antwort hat er bis heute nicht erhalten. So wenig wie von der Uni Stuttgart, der Merz-Akademie und der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, wo er jeweils anregte, Hübsch und sein Werkverzeichnis zum Thema einer Bachelor- oder Masterarbeit zu machen. Einen passenden Anlass dazu gibt es: am 22. November 2026 würde Hermann Hübsch 125 Jahre alt.