Stellen Sie sich einmal vor, Deutschland hätte in seinem überlasteten Gesundheitssystem von heute auf morgen Zehntausende zusätzliche Ärzte und Pfleger. Die Patienten würden besser und freundlicher behandelt und versorgt, sie bekämen viel schneller einen Untersuchungstermin. Wahrscheinlich würden einige ihre Krankheiten überleben, die heute noch daran sterben. Das klingt zu gut, um wahr zu sein? Dann kommen Sie mal mit auf einen kleinen Ausflug in Deutschlands Kliniken.

Dort werden die einzelnen Abteilungen alle fünf Jahre auf Herz und Nieren geprüft. Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen kommen zum Beispiel in die Chirurgie und kon­trollieren, ob das Krankenhaus den Vorschriften entsprechend ausgestattet ist. Denn nur dann bekommt das Krankenhaus Geld von der Krankenkasse. Stimmt der Dienstplan mit der Realität überein? Haben die Ärzte wirklich genug Berufserfahrung, oder haben sie zwischendurch ein paar Jahre nur in Teilzeit gearbeitet?

Dann kommen die Sonderfälle: Wenn das Krankenhaus spezielle Kinderchirurgie anbietet, sind jederzeit mindestens fünf Fachärzte rufbereit? Wenn „teil­stationäre interdisziplinäre Schmerztherapien“ geleistet werden, arbeitet dann ein Psychotherapeut im Team mit und auch ein Physiotherapeut? Das Krankenhaus muss Facharzt-Urkunden vorlegen, Arbeitsverträge und die Vertretungs­regelung.

Die Prozedur kostet mehr als zehn Arbeitstage

Wenn ein Arzt bei der Hochzeit einen neuen Namen angenommen hat, muss das Krankenhaus auch seine Eheurkunde vorzeigen. Allein die Vorschriften für diese Prüfung umfassen rund 600 Seiten.

Insgesamt muss ein Krankenhaus rund 100 Stunden Arbeitszeit von Ärzten dafür einplanen, so hört es Peter Bobbert immer wieder, der Präsident der Ärztekammer Berlin und selbst Oberarzt in einem Krankenhaus ist. 100 Stunden: Das sind mehr als zehn Arbeitstage, an denen ein Arzt sich nicht um Patienten kümmern kann. Die ganze Prozedur ist aufwendig, aber nötig. „Niemand will sie abschaffen“, sagt Bobbert.

Einen Monat später allerdings kommt der Medizinische Dienst wieder. Dann prüft er die Notfallmedizin. Dafür ist die Chirurgie auch wichtig. Also werden die Chirurgen noch mal kontrolliert. „Ich schätze: Zwei Drittel der Daten werden einfach noch einmal erhoben“, sagt Bobbert. Warum der ganze Aufwand? Der Medizinische Dienst kommt mit einem neuen Team. Die Prüfer wissen nicht, was ihre Kollegen einen Monat vorher festgestellt haben, und fordern alle Daten noch einmal an. Also gehen noch einmal mehrere Arbeitstage von Ärzten verloren. Und der Medizinische Dienst sagt: Es gehe gar nicht anders, das Gesetz schreibe es so vor.

Symptomatisch für das Gesundheitswesen – und für das Land

Das alles wäre kein großes Problem, sondern nur ein kleines Ärgernis, das sich in den kommenden Jahren wegen eines neuen Gesetzes sowieso entschärfen wird – wenn, ja wenn dieses Vorgehen nicht symptomatisch wäre für die Lage im Gesundheitssystem. Und für Deutschland insgesamt.

In den vergangenen Jahren haben Parlamente und Regierungen eine Regel nach der anderen beschlossen, immer mit guter Absicht. Sie haben die Verwaltung immer noch ein wenig komplizierter gemacht – so lange, bis das Dickicht aus Regeln und Verwaltung praktisch jedes Vorankommen verhindert. „Bürokratie“ nennen die Deutschen das Pro­blem. Es ist ein Ärgernis für jeden einzelnen. Es hemmt Unternehmen, die dem Land Wohlstand bringen sollen. Und es blockiert selbst Politiker, die das Land auf aktuelle Herausforderungen vorbereiten wollen. Das ist nicht nur lästig und teuer. Am Ende gefährdet diese Erstarrung sogar die Demokratie.

Bleiben wir aber noch einen Moment bei den Ärzten. Zehn Arbeitstage pro Abteilung alle fünf Jahre – damit könnte man leben, wenn es weiter nichts wäre. Doch es gibt noch viel mehr. Jeden Handgriff müssen die Ärzte dokumentieren, weil die Krankenkassen vielleicht eines Tages die Abrechnungen überprüfen wollen. Sie müssen sich auch dagegen absichern, in Haftung genommen zu werden, wenn die Behandlung schiefgeht. Und dann brauchen sie unterschriebene Einverständniserklärungen von den Patienten für jede Petitesse, selbst wenn die nur entlassen werden oder wenn ihre neu geborenen Kinder einen Hörtest bekommen sollen.

Drei Stunden am Tag für die Bürokratie

Rund drei Stunden am Tag ist jeder Arzt im Durchschnitt nur mit Bürokratie beschäftigt, hat die Ärztegewerkschaft Marburger Bund erfragt. Bei Krankenpflegern sind es nur ein paar Minuten weniger. Das heißt auch: Würde die bürokratische Last im deutschen Gesundheitssystem nur halbiert, dann gewänne Deutschland die Arbeitskraft von rund 30.000 in Vollzeit arbeitenden Ärzten allein in den Krankenhäusern, von weiteren Zehntausenden Ärzten in den Praxen und von mehr als 60.000 Krankenpflegern.

Natürlich sind Krankenhäuser nicht die Einzigen, die unter diesem Problem leiden. Es leidet ganz Deutschland. Unternehmer leiden, wenn sie ein neues Werk oder eine ganz neue Idee in die Welt bringen wollen. Wissenschaftler leiden, wenn sie neue Entdeckungen zum Wohl der Menschheit machen wollen. Politiker leiden, wenn sie Reformen anpacken wollen: Von Olaf Scholz über Christian Lindner bis Robert Habeck ist in der Ampelkoalition jedes Regierungsmitglied von der Bürokratie ausgebremst worden. Und jeder Bürger leidet ganz individuell.

Das gilt nicht nur beim Kontakt mit Ämtern und Sozialversicherungen, der oft schwierig genug ist. Es geht noch viel weiter: Sie wollen die gleichen ETF kaufen wie sonst, aber Ihre Bank verordnet Ihnen erst mal ein Finanz-Quiz? Sie können nicht ungestört im Internet unterwegs sein, ohne ständig Cookie-Banner wegzuklicken? Ihr neues Auto macht während der Fahrt ständig laute Töne, weil es glaubt, Sie würden zu schnell fahren – dabei hat es nur die Verkehrsschilder falsch erkannt? All das hat mit Bürokratie zu tun. Und die ist in jüngster Zeit kräftig gewachsen – viel mehr, als es offizielle Indizes erfassen.

Es geht nicht darum, den Staat kurz und klein zu hacken

Ist Bürokratie immer und überall überflüssig? Natürlich nicht. Es geht nicht darum, den Staat kurz und klein zu hacken. Denn wahr ist: Bürokratie ist eine große Errungenschaft der Staatskunst. Professionelle Beamte, die sich an Recht und Gesetz halten und so weit wie möglich ohne Willkür entscheiden: Wer würde das nicht gut finden? Das gilt heutzutage als Grundvoraussetzung für eine sinnvolle Organisation von Staaten und Unternehmen. Manchmal rückt der Staat aus pragmatischen Gründen von der Bürokratie ab, etwa wenn große Eile geboten ist. Nach Naturkatastrophen versprechen Politiker unbürokratische Hilfszahlungen, in der Pandemie unbürokratische Maskenkäufe. Das kann nötig sein. Die Bürokratie auf Pause zu stellen, führt allerdings regelmäßig zu ungerechter Verteilung und Geld­ver­schwendung (bis an die Grenze zur Korruption, gelegentlich darüber hinaus). Die Eile wird dann mit schlechter Leistung des Staates bezahlt.

Es kann aber auch nicht bleiben, wie es ist. Wen auch immer man in Deutschland fragt, Klagen über Bürokratie kommen zuverlässig. 83 Prozent der Baden-Württemberger finden, dass es zu viel Bürokratie gebe. 82 Prozent der Apotheker fühlen sich „sehr stark beeinträchtigt“, 85 Prozent der Lehrer finden den Aufwand „unangemessen und belastend“. Inzwischen wird auch das Übermaß an Bürokratie mit schlechter Leistung des Staates bezahlt.

Angesichts der wachsenden Regellast bleibt selbst den Behörden inzwischen manchmal wenig anderes übrig, als Gesetze zu ignorieren. Im besten Fall trifft es dann die unwichtigeren. „Es gibt ja den schönen Begriff der pragmatischen Illegalität“, sagt Sabine Kuhlmann, Verwaltungswissenschaftlerin an der Universität Potsdam und stellvertretende Vorsitzende des Normenkontrollrats. „Wir haben schon die Tendenz, dass Verwaltung bestimmte Regeln ignorieren muss, ganz einfach um handlungsfähig zu bleiben.“

Deutschland braucht keine Kettensäge

So ähnlich ging es vor wenigen Jahren der Deutschen Bank: Die Bafin verlangte die Entlassung eines Mitarbeiters, der verdächtigt wurde, sich an Zinsabsprachen beteiligt zu haben. Das Arbeitsgericht aber verbot die Entlassung. Die Bank kam da nur heraus, weil der Betroffene freiwillig ging – die Bank musste dem mutmaßlichen Übeltäter eine hohe Abfindung zahlen.

Deutschland braucht keine Kettensäge, wie sie Javier Milei in Argentinien martialisch in die Luft schwingt. Aber eine Heckenschere braucht Deutschland vielleicht schon, wie der Chef des Ludwig-Erhard-Forums, Stefan Kolev, festgestellt hat: um alles wieder in Form zu bringen. Thomas de Maizière, der in Deutschland schon viele Ministerämter hatte, formuliert es anders. Auch er mag die Kettensäge nicht – aber er sagt: „Wir müssen das jetzt nicht revolutionär verändern, sondern evolutionär. Trotzdem sind grundlegende Veränderungen geboten.“

Dazu muss man aber erst mal verstehen, wo die Bürokratie herkommt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Da sind zuerst Schwierigkeiten im Zusammenspiel von mindestens vier staatlichen Ebenen, die in Deutschland über jeden Bürger wachen: die Kommune, das Land, der Bund und schließlich die Europäische Union. Dass es da zu Koordinationsschwierigkeiten kommt, ist kein Wunder. Problematisch ist dabei nicht nur die Koordination zwischen den verschiedenen Ebenen, sondern auch zwischen den einzelnen Ämtern auf einer Ebene.

„Eine alleinerziehende Frau, die einen pflegebedürftigen Vater hat, hat Ansprüche auf ungefähr zehn bis zwölf Sozialleistungen, die von fünf verschiedenen Bundesministerien ausgehen, denen vier verschiedene Einkommensbegriffe zugrunde liegen, und sie ist angewiesen auf acht Bewilligungsstellen“, so sagt es der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück. Es geht um Kindergeld und Kinderzuschlag von der Familienkasse, Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt, Hilfe zur Pflege vom Sozialamt und so weiter. Da macht der Staat sich und uns ziemlich viel Arbeit, obwohl eine einzige Einkommensermittlung reichen würde, die dann alle Behörden nutzen.

Schlimmer noch: Gewährt ein Amt eine Leistung, müssen die anderen unter Umständen neu rechnen. Und wenn die Frau einen neuen Partner findet, haben die Ämter drei verschiedene Definitionen davon, ob die beiden zusammenleben oder nicht.

Kompetenz wird erstickt, Motivation getötet

Dazu kommt die Arbeitskultur in der Verwaltung, die allzu oft die Kompetenz der besten Mitarbeiter erstickt und ihre Motivation tötet. Ob Bürokratie als Problem wahrgenommen wird, das ergibt sich im Zusammenspiel von Gesetzen und Verwaltung. Auch Veränderungen in der Verwaltung können dazu beitragen, die Menge an Gesetzen besser handhabbar zu machen.

Denn die schiere Menge an Gesetzen gibt den Trend vor. An einigen Stellen ist „Bürokratie“ nur ein anderes Wort für Überregulierung. In den vergangenen Jahren sind mehr und mehr Regeln beschlossen worden. 2024 galten in Deutschland allein auf Bundesebene 1792 Gesetze mit rund 52.500 Einzelnormen – 2010 waren es noch 43.100 Normen gewesen; die Steigerung beträgt mehr als 20 Prozent.

Die wichtigsten Motive für neue Gesetze lassen sich in zwei Kategorien zusammenfassen. Einmal versuchen die Regierungen, die Bürger zu schützen: vor Unternehmen, die sie abzocken wollen, vor Gefährdungen ihrer Gesundheit und oft auch vor sich selbst. Dahinter stecken oft gute Ideen – einerseits. Andererseits führte diese Philosophie vor einigen Jahren aber zum Desaster der europäischen Datenschutz-Grundverordnung. Manchmal werden Bürger vor Dingen geschützt, vor denen sie gar nicht geschützt werden wollen. Gelegentlich drücken Firmen auf dem Umweg über diese Regeln erst recht ihre Eigeninteressen durch. Der Staat leistet dann quasi Beihilfe zur Abzocke.

Überregulierung hat noch einen anderen Grund: Rücksicht auf andere. Der Mensch von heute soll dem Klima nicht schaden, die Artenvielfalt erhalten, das Tierwohl schützen und andere Menschen keinen Feinstaub-Emissionen aussetzen – kurzum: Er hat viele Gelegenheiten, rücksichtslos zu sein. Solches Verhalten ist in den vergangenen Jahren besonders oft und gerne reguliert worden, und zwar oft zu Recht. Aber es kann auch zu viel werden. Wenn ein Gesetzesvorschlag an die Rücksicht appelliert, können Leute mit guter Kinderstube nur schwer widersprechen – auch wenn der Vorschlag möglicherweise untauglich ist. Darum schießt diese Art der Gesetzgebung besonders oft über.

2024 haben die Universität Oxford und das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, wahrlich kein Hort von Klimaleugnern, den Erfolg von Klimapolitik in ganz unterschiedlichen Ländern untersucht. Von 1589 Maßnahmen konnten die Forscher nicht mal bei siebzig eine Wirkung nachweisen. Selbst die deutschen Milliardenzuschüsse für Elektroautos haben den Klimaschutz nicht nachweisbar beschleunigt. Und im Januar 2025 wurde bekannt: Die Politik lässt sich zwar den Kohleausstieg insgesamt mehr als 40 Milliarden Euro kosten, das Klima wurde dadurch allerdings erst mal gar nicht geschützt – weil die Bundesregierung sich in der EU-Bürokratie verheddert hatte.