Immer mehr Leute in Stuttgart stellen „Zu-verschenken-Kisten“ vor ihre Tür. Tolles Konzept, sagen die einen. Nervt, sagen die anderen. Ein Meinungsaustausch.
Beim Stadtspaziergang oder auf dem Fußweg zur Bahn stehen sie plötzlich vor einem am Straßenrand, auf Stromverteilerkästen, Mäuerchen, Vorsprüngen oder auf Fensterbänken: „Zu-verschenken-Kisten“. Immer häufiger tauchen sie auf, die mal schönen, mal zerschlissenen Boxen, in denen sich befindet, was jemand anderes nicht mehr braucht. Man weiß nicht, wer dieser Andere ist. Nur das Haus, vor dem das Kistchen steht, gibt einen kleinen Eindruck. Vielleicht.
Pro: Schöne Kreislaufwirtschaft mit Überraschungseffekt
Gleich vorab: Ich, Judith, stelle selbst so gut wie nie eine „Zu-verschenken-Kiste“ vors Haus. Denn was ich daran lästig finde: die Schachtel abends wieder reinzuräumen – vor allem, daran zu denken. Ich vergesse das verlässlich, vielleicht weil ich mich innerlich schon verabschiedet habe von den Sachen, die ich zu schade finde für den Müll, die ich aber nicht mehr bei mir haben will.
„Zu-verschenken-Kisten“ liebe ich trotzdem. Ich muss es schon eilig haben, um nicht zu schauen, was sich darin verbirgt. Außer man sieht schon auf drei Meter Entfernung, dass es über die Bücher dreimal geregnet hat – das ist pfui. Aus ordentlichen Boxen habe ich aber schon echte Schätze gefischt: eine hochwertige, mobile LED-Stehlampe, die ich per USB laden kann, oder drei Marken-Rucksäcke. Und das Schönste daran ist: Ich weiß nie, was mich morgen erwartet. Das ist ein bisschen wie Weihnachten und Ostern zusammen.
Glücksgefühl angeknipst
Für mich ist es aber auch ein bisschen wie Shopping. Ich versuche, möglichst ressourcenschonend zu leben. Man findet mich deshalb selten bis nicht in einem Krimskramsladen oder in einer Shopping-Mall. Was ich trotzdem kenne: den Belohnungseffekt, das gute kurzfristige Gefühl, etwas Neues zu HABEN. Nun ist das Zeugs in „Zu-verschenken-Kisten“ ja das Gegenteil von neu. Aber eben neu genug für mich, um mein Glücksgefühl anzuknipsen.
Das die Dinge nicht neu sind, führt mich zu einer interessanten Frage. Darf man Dinge aus „Zu-verschenken-Kisten“ eigentlich weiterverschenken? Um es abzukürzen: Ich mache das oft. Dann, wenn ich sofort an jemanden denken muss. Oder weil ich weiß, dass meine eine Freundin genau so eine schlichte, weiße Saucier sucht und die andere Freundin einen Pizzaschneider.
Goldiger Volltreffer
Und manchmal liegt da auch genau das, auf das ich selbst gewartet habe: neulich zum Beispiel eine goldige Spendendose mit Bienen und Blumen. Bei diesem Volltreffer habe ich sogar leise „danke“ gemurmelt.
Aber: Wie werde ich das alles wieder los – irgendwann? Dann, wenn das Glücksgefühl übers Neue längst vergessen ist. Nicht mit Hilfe von „Zu-verschenken-Kisten“, auch wenn der Kreislauf dann perfekt wäre. Ich bin eher Team Flohmarkt. Unter anderem, weil ich gerne weiß, wer meine ausgedienten Lieblingsstücke mit nach Hause nimmt. Judith A. Sägesser
Contra: Augen auf bei der Wahl des Stadtviertels Hebammen-Wissen? Kein Bedarf. Foto: Nicole Golombek
Gibt es Menschen, die sich beim Flanieren durch Stuttgarts Straßen über „Zu verschenken“-Kartons voller Bücher und Krempel auf dem Gehweg beugen und plötzlich erkennen – ja, stimmt: „Hebammen-Wissen, ganz natürlich“. Da besteht bei mir ein Defizit, das wollte ich mir immer schon aneignen. Und in Sachen „Klassische Verse“? Da liegt bei mir auch einiges im Argen. Sich selbst einzugestehen: Auf einem Bein barfüßig herumspringen und am anderen Fuß einen in einer Kiste gefundenen zerlatschten Schuh anziehen, das ist meine heimliche Leidenschaft, die ich jetzt den Mut habe auszuleben?
Meine Vermutung: Es kommt eher selten vor. Die Schenker wiederum, die derlei am Straßenrand deponieren, sind einfach zu faul gewesen, ihren Kruscht zum Rote-Kreuz-Container, ins Second-Hand-Kaufhaus der Caritas, zum Wertstoffhof zu tragen. Einen alten Karton (von der letzten Internet-Bestellung beim Billig-Online-Warenhändler?) hat fast jeder in seiner Abstellkammer, also rein damit und neben der Haustür abgestellt.
Karton mit alten Taschentüchern
Und dann, spätestens nach dem ersten Regen weicht der Karton auf, und es gesellen sich leere Zigarettenschachteln, gebrauchte Taschentücher zu dem losgewordenen Hausrat. Macht sich mittel-schick im Stadtbild. Das nur so am Straßenrande. Besonders aber das Ausrufezeichen auf dem beiliegenden „Zu verschenken!“-Zettel zeugt in vielen Fällen vor allem von einer bemerkenswerten Selbstherrlichkeit und Heuchelei. Leute, schaut, wie generös ich bin.
Und zuweilen empfinde ich diese öffentlich zur Schau gestellte Mildtätigkeit als schiere Frechheit, wenn wirklich zu-Ende-Gebrauchtes in der Kiste lagert. Was für eine abwertende Haltung seinen Mitmenschen gegenüber muss man haben, um zu glauben, dass sich ernsthaft jemand über einen zerlöcherten Pulli mit Obstflecken freuen würde oder Bedarf an einem Sessel mit zerfledderter Rückenlehne hat?
Vielleicht in der falschen Straße von Stuttgart flaniert?
Immer wieder mal, auch das gehört zur Wirklichkeit der Papp-Kisten-Abstellerei, ist von ganz anderen Erfahrungen zu hören. Die Freundin, der Kollege berichtet von einem entzückenden Tischchen, das jetzt neu lackiert in der Diele seinen Dienst als Abstellfläche für Schlüssel und Hundeleine tut. Von einem geblümten Teller (Meissner Porzellan!), auf dem jetzt dekorativ Äpfel und Birnen liegen. Dann bin ich latent neidisch und merke, ich wohne im falschen Viertel!
So ist es, je nach sozialer Schichtung der Quartiere verändert sich die Sachlage in den Verschenke-Kisten. Augen auf also, welche Spazierrouten man aufsucht, in welchem Stadtviertel man wohnt und täglich seiner Wege geht. Nicht nur Fassaden der Gebäude haben baukulturelle Relevanz und verraten etwas über den sozialen, gesellschaftlichen Stand seiner Bewohner, auch die Verschenken-Boxen haben Aussagewert. Zeig mir deinen Müll, und ich sage dir, wer du bist. Nicole Golombek