Travestie-Star, Ikone der Homosexuellen-Bewegung und TV-Aufklärerin der Nation: Ernst-Johann „Ernie“ Reinhardt alias Lilo Wanders hat viele Gesichter, auch ein nachdenkliches. Davon handelt auch seine Autobiografie, mit der er in einem Bühnenprogramm durch Deutschland tourt.
Die meisten kennen ihn als sie, als Gesicht der Sendung „Wa(h)re Liebe“ (1994-2004), wo sie in schrillen Abendkleidern mit Witz und Tiefgang gesellschaftliche Tabus rund um Sexualität und Identität thematisierte. Etwa mit Sprüchen wie „Es ist befreiend zu erfahren, dass man nicht das einzige Ferkel auf der Welt ist.“ Sie brachte Millionen Fernsehzuschauern ungefilterte Wahrheiten über Sex näher und war Wegbereiterin der alternativen Hamburger Theaterszene: Die Travestiekünstlerin Lilo Wanders, mit bürgerlichem Namen Ernst-Johann „Ernie“ Reinhardt, wird am Montag 70 Jahre alt. Um die Diva mit ihren launigen Sprüchen wurde es inzwischen etwas ruhiger, aber Reinhardt alias Wanders ist weiter gern gesehener Gast auf Bühnen und in Talkshows.
Reinhardt tourt derzeit unter anderem mit seiner Autobiografie „Waren Sie nicht mal Lilo Wanders?“ und einem zugehörigen Bühnenprogramm durch die Republik. Eine „Geschichte von Selbstzweifeln und Selbstfindung“ nennt er selbst das Buch auf seiner Internetseite – und deutet damit auch die harte Realität hinter der öffentlich bekannten, bunt schillernden Showfassade an.
Geboren wird Reinhardt am 22. September 1955 in Celle und versucht es nach einer Jugend in der niedersächsischen Provinz mit einem bürgerlichen Beruf – ein Studium zum Bibliothekswissenschaftler bricht er aber ab. Auch sonst ist nicht alles einfach. Sein Vater stirbt früh. Reinhardt hat zudem einen schwerbehinderten Bruder, der nach seinen Angaben „dramatisch“ stirbt.
Der schüchterne Junge singt im Schwulenchor
Hinzu kommt die Suche nach der eigenen sexuellen Identität. In Bremen tritt Reinhardt, der nach eigenen Angaben in jüngeren Jahren eher schüchtern ist, einem Schwulenchor bei und geht mit einer schwulen Theatergruppe auf Tour. In den 80er-Jahren lässt er sich als Kleinkünstler in Hamburg nieder.
In der Hansestadt mit ihrem berühmten Rotlichtviertel avanciert Reinhardt zu den Mitbegründern einer alternativen Theaterszene, die zum Durchbruch für viele Klein- und Travestiekünstler führt. Mit Corny Littmann, den er aus gemeinsamer Arbeit in einer freien Theatergruppe kennt, eröffnet er 1988 in einem früheren Tanzlokal auf der damals noch schwer verrufenen Reeperbahn das Schmidt-Theater. Mit schrägen Revues macht sich das Haus einen Namen.
Reinhardt erfindet für das Schmidt-Programm seine Kunstfigur Lilo Wanders – die Persiflage einer alternden Theaterdiva, der er seither treu bleibt und die bis heute als quasi reale Künstlerin in Medien und öffentlich präsent ist. Zudem wird Reinhardt mit dem Schmidt zum Sprungbrett für andere. Die Entdeckung der Hamburger Dragqueen Olivia Jones etwa geht auf sein Konto.
Ab 1989 überträgt der Norddeutsche Rundfunk (NDR) die „Mitternachtsshow“ aus dem Schmidt im Fernsehen. Wanders & Co. werden dadurch bundesweit zu Ikonen der wilden anarchischen Unterhaltung und der Homosexuellenbewegung. 1994 stellt der NDR die Übertragung ein. Im selben Jahr ergibt sich für Wanders jedoch eine neue Gelegenheit, die sie am Ende noch bekannter machen soll. Der Privatsender Vox gewinnt sie als Moderatorin der Sendung „Wa(h)re Liebe“.
„Hallo, liebe Liebenden“
Die erfolgreiche Sendung ist ein Novum und widmet sich mit einer bis dahin ungekannten Direktheit Themen wie Sex, Liebe und Pornoindustrie. Wanders, die ihre Zuschauer mit „Hallo, liebe Liebenden“ begrüßt, führt durch Reportagen aus Swingerklubs, erläutert Sexstellungen und wird „Aufklärerin der Nation“. Sogar ein Interview mit einer Frau während des Geschlechtsverkehrs habe es gegeben, erinnert sich Reinhardt einmal im „Spiegel“ selbst ein wenig ungläubig. „Das Gesicht war nicht verpixelt, das haben wir tatsächlich gesendet.“
In dem Interview spricht er auch über seinen früheren Alkoholkonsum bei den Dreharbeiten. „Ich war die ersten fünf Jahre immer hickehackevoll.“ Das habe sich danach jedoch geändert, betont der Künstler, der im echten Leben trotz Homosexualität mit Ehefrau Brigitte verheiratet ist und mit ihr drei Kinder hat. Er lebe mit seiner Familie ein „relativ bürgerliches Leben“, gibt er der „Bild“- Zeitung einmal einen der seltenen Einblicke in sein Privatleben.
2004 folgt auch das Aus für „Wa(h)re Liebe“, anschließend wird es deutlich ruhiger um Reinhardt und seine Kunstfigur Wanders, die allerdings weiterhin auf Theatertourneen geht und bei Gastauftritten in Fernsehshows zu sehen ist.
Seit etlichen Jahren lebt Reinhardt Berichten zufolge auf einem alten Bauernhof bei Hamburg. „Ich bin ganz zufrieden mit meinem Schicksal, wenn auch einiges bewältigt werden musste – insofern bin ich ganz gern ich“, verrät er einmal in einem Interview. Älterwerden sei auch befreiend, fügt er jüngst in einem anderen Interview mit Blick auf seinen Geburtstag hinzu: „Man kann alles machen, jetzt ist alles egal.“
dpa