Res Brandenbergers neuer Roman –
Dieser Autor erweitert mit einem neuen Pronomen die deutsche Grammatik
Zwei trans Personen lassen sich im Roman «Einer wie Erik» nicht von ihrem Weg abbringen. Und endlich gibt es eine sprachliche Alternative zu «meine Frau» und «mein Mann».
Publiziert: 19.09.2025, 20:32
Der Berner Autor Res Brandenberger veröffentlicht mit «Einer wie Erik» seinen zweiten Roman.
Foto: Adrian Moser
In Kürze:
- Der Berner Autor Res Brandenberger erzählt die Geschichte zweier trans Menschen aus Nidau.
- Brandenberger führt in seinem Roman ein neuartiges Allianzpronomen für Beziehungen ein.
- Das märchenhafte Werk verbindet gekonnt Satire und modernen Entwicklungsroman.
So unterschiedlich können Verwandlungen ablaufen. Bei Erika geschieht es auf dem Weg zur Schnupperlehre als Gabelstaplerfahrerin in der Zuckerfabrik Aarberg.
Im Regionalzug von Biel nach Lyss geht eine junge Frau in die WC-Kabine – und einige Minuten später verlässt die Kabine ein junger Mann. Und in Paris entsteigt Erikas Kindheits- und Jugendfreund Herbert einem zweistündigen Schaumbad als Helena.
Bereits die Cover-Illustration von Res Brandenbergers neuem Roman ist Programm. Unter einer kleinen Schere und einer gestrichelten Linie hängt ein Haarzopf. Die Aufforderung ist unmissverständlich: Lasst uns alte Zöpfe abschneiden.
Das Vehikel dazu ist die Geschichte zweier trans Personen, die um 1990 in Nidau ihre Kindheit und Jugend in eng geordneten, spiessbürgerlichen Verhältnissen verbringen.
Herbert und Erika fühlen sich in ihrer Umgebung bald als «Ausserirdische», weil sie so anders sind, im Kindergarten tauschen sie Kleider, in der Schule werden sie gehänselt und gehasst. Beim unkonventionellen Coiffeur lässt sich Erika als Zehnjährige eine Kurzhaarfrisur verpassen. Eine Katastrophe, wo doch der Zopf bis zur Konfirmation prachtvoll und weiblich hätte weiter gedeihen sollen.
«Mann bekommt Kind»
Elf Jahre sind vergangen, seit der 66-jährige Berner Grafiker, Spielgestalter und Autor in seinem Debütroman «Louis. Brot» mit Schalk und Fabulierlust von einem Autisten aus Trubschachen erzählte, der seinen eigenen Weg findet.
Bald nach der Veröffentlichung seines Erstlings begann er mit einem neuen Schreibprojekt. «Man könnte diesen neuen Stoff», sagt Res Brandenberger im Gespräch, «auf folgende Boulevardschlagzeile komprimieren: ‹Mann bekommt Kind›.» Brandenberger erzählt, mit Witz und Ironie, was hinter dieser Sensationsmeldung steht, die im Buch von der Boulevardzeitung «Klatsch» stammt.
Nach der Flucht aus den beengten Verhältnissen geht das Duo unterschiedliche Wege, ohne sich aus den Augen zu verlieren. Helena/Herbert wird in Paris ein bekanntes Model und lebt abwechselnd beide Geschlechteridentitäten.
Erika hingegen ist definitiv Erik, wählt einen etwas weniger glamourösen Weg und arbeitet bei der Kehrichtabfuhr in Worb, wo sich ein Arbeitskollege in diesen Erik verliebt – mit Folgen.
Später gründet Erik in Venedig eine Patchworkfamilie. In einem verlassenen Palazzo findet er mit seiner Tochter und diversen Aussenseitern eine Unterkunft.
Sprachliche Lücke geschlossen
So wie Res Brandenberger ein Autor ist, der sich mitunter auch als Erzählinstanz direkt in das Geschehen einmischt, so gilt es jetzt, die Besprechung zu unterbrechen und eine Besonderheit anzukündigen: Brandenberger denkt nämlich auch über eine Sprache nach, in der das Besitzdenken und die Vereinnahmung von Menschen und Tieren mit dem Possessivpronomen zum Ausdruck kommt.
So wie im Buch der Vater von Erika/Erik, der biedere Briefträger Galli, hofft, dass «seine Erika» nach den pubertären Wirrungen dann schon den richtigen Weg einschlägt.
Autor Res Brandenberger führt im Buch unter anderem mit einer Tabelle das Allianzpronomen ein.
Foto: PD
Res Brandenberger erweitert kurzerhand die Grammatik und schlägt das sogenannte Allianzpronomen vor. «Damit unterschieden werden kann zwischen dem, was jemand besitzt und dem, was zu einem gehört, mit dem man in Verbindung ist.»
«Vater ul im Himmel»
Das ist für Brandenberger nicht etwa ein Gag, sondern ein ernsthaftes Anliegen. Bei den Bezeichnungen «Ich liebe mile Frau» oder «Ich liebe milen Mann» steht das besitzanzeigende Possessivpronomen ab sofort nicht mehr zur Verfügung.
Im Buch ist eine Tabelle abgedruckt mit den in allen vier Fällen deklinierten Pronomina. Der Autor exerziert es noch an einem der bekanntesten Texte durch, dem Gebet «Vater unser im Himmel», neu: «Vater ul im Himmel».
Der Autor spielte gar mit dem Gedanken, nach der Einführung des Pronomens im Buch, konsequent so weiterzuschreiben. Seine Verlegerin und die Lektorin fanden es allerdings zu aufdringlich und zu störend für den Lesefluss.
Wird das Allianzpronomen bei ihm zu Hause in der Familie schon verwendet? Res Brandenberger schüttelt den Kopf: «Das braucht seine Zeit und auch einige Praxistests.» Es gebe natürlich viele Fälle, in welchen beide Pronomen verwendet werden könnten: «Das neue, zusätzliche Pronomen gibt uns aber die Möglichkeit für sprachliche Nuancen.»
Kapitän des eigenen Lebens
Nuancenreich ist auch dieses Buch, in dem die Hauptfigur allen Hürden und Hindernissen zum Trotz mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein unterwegs ist.
Man könnte dem Autor vorwerfen, dass er dem Kollisionspotenzial solcher Lebensentwürfe bisweilen ausweicht, aber er ist auf eine ungemein charmante Weise auf den Pfaden des Märchens unterwegs, weshalb seine Figuren nicht ständig im Konflikt mit sich sind oder psychische Ausnahmezustände erleben.
So streift dieses fabulierfreudige Plädoyer für ein vielfältiges Menschsein in allen seien fluiden Erscheinungsformen zuweilen die Grenzen zu kitschigen Gefilden. Und doch bestaunt man am Ende ein kleines Wunder, eine stimmige Mischung aus Märchen, Satire und Entwicklungsroman.
In Venedig übt der Wasserbus «Vaporetto» eine grosse Faszination auf Erik aus.
Foto: PD
Einen besonderen Reiz übt übrigens das lange Nachspiel des Romans aus: Alle auftretenden Figuren – von straight bis queer – werden liebevoll-spöttisch in ihren Eigenheiten gewürdigt, auch Kleinst- und Nebenfiguren erhalten so ein Gewicht und werden mit einer Hintergrundgeschichte ausgestattet.
So erfahren wir etwa, dass die Mütter der beiden Protagonisten als Witwen noch während 15 Jahren auf Kreuzfahrtschiffen die Weltmeere befuhren und vorzugsweise am Kapitänstisch sassen. Schliesslich zurück in der Schweiz, beschlossen sie ihre irdischen Tage in der «Doppelkabine» einer Seniorenresidenz und sprachen den Verwalter beim Essen konsequent mit Kapitän an.
Apropos Kapitän: Auch Erik wird in seiner Wahlheimat Venedig magisch von Schiffen angezogen, genauer: vom Wasserbus Vaporetto. Da kommt dann wieder Herbert/Helena ins Spiel, ehe beide endgültig zu Kapitänen ihres selbstbestimmten Lebens werden. Ja, «Einer wie Erik» ist momentan ein wenig mein Lieblingsbuch. Pardon: «mil Lieblingsbuch».
Res Brandenberger: Einer wie Erik. Roman. Allenfalls Verlag, Bern 2025, 376 Seiten
Alexander Sury hat Germanistik und Geschichte studiert. Er ist Literaturredaktor und mag deshalb Bücher aller Art. Er pflegt jedoch einen breiten Kulturbegriff und ist auch YB-Fan.Mehr Infos
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