Robert Eberth verkauft auf dem Marktplatz in Sonneberg Bratwürste. Es regnet. Kundschaft hat er aber trotzdem genug. Er sagt, das Schlimmste in Sonneberg sei diese Miesepeter-Stimmung, die überall um sich greife. „Wenn man sich die Leute von der AfD anschaut, könnte man meinen, Mundwinkel runterziehen steht bei denen im Parteiprogramm“, sagt er.

Robert Eberth muss es wissen. Im Jugendhilfeausschuss des Kreistags von Sonneberg hat er mit den „Leuten von der AfD“ oft zu tun. Und es gibt viele von ihnen. Bei der Bundestagswahl holte die Partei in Sonneberg 45 Prozent der Stimmen, im Kreistag stellt sie die größte Fraktion.

Blumen von Björn Höcke

Seit zwei Jahren ist „Spielzeugstadt“ nicht mehr das bekannteste Attribut von Sonneberg, dem beschaulichen Verwaltungssitz es kleinsten Landkreises Ostdeutschlands mit nur rund 50.000 Einwohnern. Seit zwei Jahren ist Sonneberg vor allem als der Ort bekannt, in dem die AfD erstmals ein kommunales Spitzenamt gewann.

Robert Sesselmann heißt der Landrat seitdem. Zu seiner Wahl brachte Rechtsaußen-Frontmann Björn Höcke Blumen, der Medienrummel war groß. Seitdem ist es wieder stiller geworden in der Thüringer Kleinstadt, nur wenige Kilometer entfernt von der bayerischen Grenze. Doch ohne Folgen blieb die Wahl Sesselmanns nicht.

Im Juni 2023 wurde Robert Sesselmann (Mitte) zum Landrat des Kreises Sonneberg gewählt. Zu Gast auf der Wahlparty: AfD-Landesvorsitzender Höcke und AfD-Bundesvorsitzender Chrupalla.

© dpa/Martin Schutt

Louis Räder ist 26 Jahre alt uns sitzt für die SPD im Kreistag. Als Robert Sesselmann gewählt wurde, schauten er und seine Mitstreiter fassungslos im Parteibüro am Rande der Innenstadt auf die Fernsehbildschirme, sahen den jubelnden Björn Höcke. „Viele im Kreis kannten Robert Sesselmann, als Anwalt hatte er vielen geholfen. Ich glaube, dieser persönliche Faktor hat ihn am Ende in der Stichwahl knapp über die 50 Prozent gehoben“, sagt Räder.

Kurz nach der Wahl bin ich abends nach Hause gegangen, da haben Jugendliche hinter mir einen Hitlergruß gezeigt und ‚Heil Hitler‘ gerufen. Da habe ich gedacht: Krass, das hätten die sich vor zwei Wochen noch nicht getraut.

Louis Räder, SPD-Abgeordneter im Kreistag

Die Stimmung habe sich in den vergangenen Jahren verändert, erzählt er. Im Wahlkampf um die Landratswahl sei er das erste Mal offen angegangen worden, wenn er gesagt habe, dass er von der SPD sei. „‚Scheiß SPD, verzieht euch, ihr Volksverräter‘, so etwas. Die Leute wollen auch nicht mehr mit der SPD gesehen werden. Kaum jemand bleibt noch am Wahlkampfstand stehen.“

Louis Räder sitzt für die SPD im Sonneberger Kreistag.

© Jan Krüßmann/Tagesspiegel

Sesselmanns Wahl sei ein Dammbruch gewesen; seitdem würden sich die Leute viel mehr trauen. Rechte Sprüche seien auf den Straßen Sonnebergs akzeptierter geworden. „Kurz nach der Wahl bin ich abends nach Hause gegangen, da haben Jugendliche hinter mir einen Hitlergruß gezeigt und ‚Heil Hitler‘ gerufen. Da habe ich gedacht: Krass, das hätten die sich vor zwei Wochen noch nicht getraut“, erzählt Räder.

Feindbild in der Stadt

Philipp Schubert kann das bestätigen. Er sitzt im Rollstuhl, lebt offen pansexuell, äußert sich gegen die AfD. Das macht ihn für viele in der Stadt zum Feindbild. „Wenn du sagst, dass du queer bist, wirst du fertiggemacht“, sagt er. „Ich werde in der Stadt regelmäßig angepöbelt und beleidigt. Ich habe schon erlebt, dass Jugendliche auf offener Straße zu mir sagen, die AfD werde mich richten, Schwule gehörten erschossen.“

Philipp Schubert sagt, er erlebe in Sonneberg jede Woche Hass.

© Jan Krüßmann/Tagesspiegel

Schubert sagt, in Sonneberg sei es Trend, rechts zu sein. Besonders junge Menschen ließen sich von rechten Influencern leicht beeinflussen. Seit es einen Landrat von der AfD gebe, schäme sich auch kaum noch jemand, das offen zu zeigen.

Für Robert Sesselmann selbst ist der Vorwurf, seine Wahl habe zu einer Normalisierung rechter Hetze beigetragen, „haltlos“. Er sehe vielmehr eine politisch motivierte Stimmungsmache von Seiten „linker Organisationen und Medien mit fadenscheinigen und unbelegten Behauptungen“ zu Lasten seiner Person. Das schreibt er in einer Stellungnahme auf Frage des Tagesspiegels. Ein Gespräch lehnte er ab.

Wenn ich mich von denen einschränken lasse, gewinnen sie. Das könnte ich mit meinem Selbstwertgefühl nicht vereinbaren.

Philipp Schubert möchte sich nicht einschüchtern lassen.

Schubert organisiert mit einigen Mitstreitern aus Protest gegen die AfD und für die Sichtbarkeit queerer Menschen seit zwei Jahren einen jährlichen CSD in Sonneberg. Die Konfrontation will er weiter suchen, auch wenn es belastend sei. „Wenn ich mich von denen einschränken lasse, gewinnen sie. Das könnte ich mit meinem Selbstwertgefühl nicht vereinbaren.“

2024 fand der erste CSD in Sonneberg statt. Die Planungen für nächstes Jahr laufen schon.

© imago/Müller-Stauffenberg/imago/Müller-Stauffenberg

Robert Sesselmann betont schriftlich, er habe gegen den CSD keinerlei Einwände. Für Louis Räder von der SPD ein typisches Verhalten. Er sagt, Robert Sesselmann wisse sehr genau, was er wann, wie und wo sagen könne. „Er teilt die Ansichten der AfD und manchmal zeigt er es auch. Aber oft versteckt er seine Radikalität gut.“

Die AfD sei deshalb schwer zu entlarven. Viele ihrer Vertreter bemühten sich, öffentlich keine Angriffsfläche zu bieten. „In nichtöffentlichen Ausschusssitzungen zeigt sich deren wahre Gesicht deutlich offener. Aber daraus darf ich nicht zitieren“, sagt Räder.

Viel versprochen

Im Wahlkampf vor zwei Jahren irritierte Sesselmann mit für eine Kommunalwahl ungewöhnlichen Forderungen: Grenzen dicht, Frieden mit Russland, zurück zur D-Mark. Räder sagt: „Sesselmann hat im Wahlkampf erzählt, was die Leute gern hören wollten; zum Beispiel, dass er alle Geflüchteten in Sonneberg sofort abschieben würde. Ob das umsetzbar ist oder überhaupt in der Zuständigkeit eines Landrats liegt, spielte keine Rolle.“

Robert Sesselmann im Sonneberger Kreistag. Seine Spielräume als Landrat sind begrenzter, als er vor der Wahl zugeben wollte.

© dpa/Daniel Vogl

Antworten auf die Frage, was aus diesen Wahlversprechen geworden sei, musste das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ von Sesselmann gerichtlich erstreiten. Für Friedensverhandlungen mit Russland sei er nicht zuständig, schrieb er schließlich notgedrungen. Um einen Termin im Kreml habe er sich auch nicht bemüht. Genauso lägen die Zuständigkeit für Euro-Austritt und Grenzschließungen „erkennbar nicht bei einem Landrat“. So weit, so richtig. Warum dann aber diese Themen im Kommunalwahlkampf?

Auf Tagesspiegel-Nachfrage schreibt Sesselmann, im Vorfeld demokratischer Wahlen müsse es legitim sein, auch als gegebenenfalls nicht zuständiger Kommunalpolitiker klar seine persönlichen Einstellungen und Forderungen zu politischen Fragen zu äußern. Seine Äußerungen von damals möchte er daher nicht als Wahlversprechen verstanden wissen, sondern als Forderungen an die Bundesregierung.

Die AfD in den Kommunen

Robert Sesselmann ist nach wie vor der einzige AfD-Landrat in Deutschland. In mehreren anderen Städten errang die AfD aber inzwischen Bürgermeisterposten. Hannes Loth ist Bürgermeister in Raguhn‑Jeßnitz (Sachsen-Anhalt) und Rolf Weigand in Großschirma (Sachsen). Im sächsischen Pirna ist der von der AfD nominierte Tim Lochner Oberbürgermeister, aber kein Parteimitglied.

Bei der Kommunalwahl in NRW treten nächstes Wochenende in Gelsenkirchen, Hagen und Duisburg AfD-Kandidaten in der Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters an. Dass sie gewinnen, gilt aber als unwahrscheinlich.

Doch auch bei den Fragen, für die die der Landrat tatsächlich zuständig ist, moniert Louis Räder Stillstand und leere Versprechen: „Zum Beispiel gab es damals eine Straßensperrung, die für große Umwege sorgte. Sesselmann hat im Wahlkampf gesagt, er findet dafür ganz schnell eine Lösung. Passiert ist natürlich nichts.“

Rechte junge Männer Die AfD versucht, sich als Partei der Soldaten zu profilieren

Robert Sesselmann sieht das naturgemäß anders. Auf die Frage, was er bisher erreicht hab, um das Leben der Menschen in Sonneberg konkret zu verbessern, schickt er eine lange Stichpunktliste. So habe er zum Beispiel eine Bezahlkarte für Asylbewerber eingeführt. Dafür, dass dies schon mancher CDU-geführte Landkreis vor dem Kreis Sonneberg umgesetzt hatte, gab es innerhalb der AfD Kritik an Sesselmann. Außerdem, schreibt er, habe er die Digitalisierung der Schulen vorangebracht, das Katastrophenschutzzentrum vergrößert oder die „Biber-Problematik“ an der Kreisstraße 23 gelöst. Sesselmann, so scheint es, ist in der Realität der kommunalen Kleinteiligkeit angekommen.

Streit um Förderprogramm

Wenn Robert Eberth gerade keine Thüringer Rostbratwurst verkauft, ist er Tanzlehrer und im Ehrenamt Vorsitzender des Kreissportbundes. Als solcher kennt er sich gut mit einem der größten Streitthemen aus, die es in Sonneberg seit Sesselmanns Wahl gab: dessen Versuch, die Fördermittel des Programms „Demokratie leben“ zu streichen.

35.000 Euro Eigenanteil muss der Kreis dafür zahlen, erhält dafür aber 160.000 Euro Fördermittel. Von dem Geld werde demokratische Jugendarbeit finanziert, sagt Eberth, etwa bei ihnen im Sportbund, oder Fahrten in die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen. „Ist doch klar, dass Sesselmann das loswerden will.“

Robert Eberth verkauft nicht nur Bratwürste, sondern ist auch Vorsitzender des Sportbunds in Sonneberg.

© Jan Krüßmann/Tagesspiegel

Auch für Louis Räder ließ der Vorstoß tief blicken: „Das Programm fördert Vielfalt; die AfD will keine Vielfalt.“ So einfach sei das. Sesselmann selbst schreibt auf Nachfrage von notwendigen Sparmaßnahmen und einer in seinen Augen fragwürdigen Förderungen von NGOs mit Steuergeldern, die teils gegen die „Opposition“ – gemeint sein dürfte seine eigene Partei – demonstrierten.

Damals wurde die Streichung im Kreistag noch verhindert. Ob das heute wieder so ausgehen würde, da ist Louis Räder sich nicht sicher. Im vergangenen Jahr fanden Kommunalwahlen statt, aus denen die AfD gestärkt hervorging. Eine eigene Mehrheit hat sie zwar nicht, die Wählergemeinschaft Pro Sonneberg agiere aber meist als Mehrheitsbeschaffer, sagt Räder. Ein Gespräch des Tagesspiegels mit Vertretern von Pro Sonneberg kam trotz mehrfacher Anfrage nicht zustande.

Wir müssen zeigen, dass es auch noch eine Alternative zur Alternative gibt.

SPD-Kreistagsabgeordneter Louis Räder sieht trotz fehlenden Gestaltungsspielraums weiterhin einen Sinn in seiner politischen Arbeit.

Die zwei Blöcke ständen sich im Kreistag unversöhnlich gegenüber, sagt Räder. Das führe teils zu absurden Situationen: „Als ehrenamtliche Richter fürs Verwaltungsgericht mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden mussten, haben nur Kandidaten eine Mehrheit bekommen, die niemand kannte. Alle anderen wurden von der einen oder der anderen Gruppe abgelehnt.“

Durchsetzen könne er als SPD-Abgeordneter im Kreistag kaum noch etwas. „Aber ich finde es trotzdem wichtig, weiter präsent zu sein. Wir müssen zeigen, dass es auch noch eine Alternative zur Alternative gibt.“

Keine Mittel für Sozialberatung

Etwas außerhalb des Stadtzentrums liegt Sonnebergs Geflüchtetenunterkunft. In einem alten Schulgebäude ganz in der Nähe betreibt eine private Initiative eine Kleiderkammer. Einer, der sie heute besucht, ist Mohanad Mohammed. Er wisse um die Stärke der AfD und ihre feindselige Haltung gegenüber Geflüchteten. Doch er beteuert, davon im Alltag wenig zu spüren. Es sei schön in Sonneberg, die Menschen behandelten ihn freundlich.

Der „Spiegel“ berichtete im vergangenen Jahr allerdings von einer „besorgniserregenden Tendenz“, die man bei der Thüringer Integrationsbeauftragten im Kreis Sonneberg ausgemacht habe: Landesmittel für die Sozialberatung von Geflüchteten würden nicht mehr abgerufen, Stellen für Sozialarbeiter gekürzt.

Bunt und offen: Eine Teilnehmerin des Christopher Street Days 2024 in Sonneberg.

© imago/Müller-Stauffenberg

Auf Anfrage des Tagesspiegels teilt das zuständige Justizministerium in Erfurt mit, seit 2023 würden vom Kreis Sonneberg keine Mittel mehr für die Sozialberatung und –betreuung für anerkannte Flüchtlinge mehr beantragt. Insgesamt knapp 350.000 Euro an Fördermitteln konnten daher nicht abfließen.

Das Landratsamt teilt mit, man erfülle die ihnen übertragenen Pflichtaufgaben der Unterbringung, Versorgung und Integration von Flüchtlingen vollumfänglich. Die Entscheidung, keine Fördermittel mehr zu beantragen, sei schon vor dem Amtsantritt Sesselmanns aus Gründen der Haushaltskonsolidierung getroffen worden, da ein Eigenanteil zu leisten gewesen wäre. Diese Entscheidung folge „rein sachlichen Erwägungen“, man wolle auch weiterhin an ihr festhalten.

Jammern – aus Prinzip?

Petra Gundermann sortiert in der Kleiderkammer gespendetes Spielzeug. Für ihre Initiative habe sich wenig geändert, sagt sie. „Wir hatten vorher keine Unterstützung vom Kreis und haben jetzt immer noch keine.“ Von schwierigen Zuständen im Geflüchtetenheim habe sie aber auch gehört. Sozialarbeiter, die dort arbeiten, möchten sich auf Anfrage nicht äußern.

Bis vor zwei Jahren arbeitete Gundermann auch als Ausländerbeauftragte bei der Kreisverwaltung. Nach der Landratswahl hat sie gekündigt. Wie aus den vom „Spiegel“ eingeklagten Antworten Sesselmanns hervorgeht, ist sie nicht die einzige. 14 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben demnach auf eigenen Wunsch gekündigt. Sesselmann hatte zuvor mehrfach behauptet, nicht einer sei gegangen.

Mit AfD-Unterstützern ins Gespräch zu kommen, ist hingegen nicht so leicht. Ein Mann mit einer großen blauen Parteiflagge im Garten möchte keine Fragen beantworten. Bevor die erste gestellt ist, ist die Haustür schon wieder zu. „Kein Kommentar!“ Petra Gundermann erzählt, viele ihrer Freunde seien euphorisch gewesen, als Sesselmann gewählt wurde. „Jetzt wird alles anders werden, haben sie gesagt. Mittlerweile sind sie ganz still geworden.“

Mehr zur AfD bei Tagesspiegel Plus AfD-Politiker wehrt sich gegen Wahl-Ausschluss Bundesverfassungsgericht muss über Kandidatur von Joachim Paul entscheiden Biograf über Björn Höcke „Bis es so weit ist, schickt er seine Vertrauten in den Bundesvorstand“ Machtkämpfe, Radikalisierung, Furcht vor Konsequenzen Das bewegt AfD-Politiker zum Parteiaustritt

Auch Robert Ehlers berichtet von solchen Unterhaltungen an seinem Bratwurststand: „Viele Leute sagen mir, es müsse sich ganz dringend etwas ändern. Aber wenn ich dann frage, was denn, kommt nichts mehr außer ‘Mir egal, irgendwas.’“ Er könne das nicht nachvollziehen. Den Leuten in Sonneberg gehe es wirtschaftlich gut. „Sie jammern trotzdem, einfach aus Prinzip.“