1919. Der Erste Weltkrieg ist vorbei; Streiks und Straßenkämpfe erschüttern Berlin. KPD und Teile der USPD fordern die Entmachtung des Militärs und die Diktatur des Proletariats und gehen im „Spartakusaufstand“ gegen die von der SPD und anderen Teilen der USPD geführte Provisorische Reichsregierung vor. Der junge Bertolt Brecht schreibt nach „Baal“ sein zweites Theaterstück, das erst 1922 zur Uraufführung kommen wird. Ursprünglicher Titel. „Spartakus“. Otto Falckenberg inszenierte es an den Münchner Kammerspielen. Der Name war dem Intendanten und Regisseur zu revolutionär; er fürchtete um die Sicherheit seines Theaters. So wurde dem Stück der bis heute gültige Titel „Trommeln in der Nacht“ verpasst. Der hat etwas Expressionistisches und passt wunderbar zu seiner Sprache.
Und zur Geschichte: Anna Balicke ist verlobt mit Andreas Kragler, der schon vor Jahren als Frontsoldat in den Krieg zog. Als er nicht heimkehrt, wendet sich Anna, massiv gedrängt von ihren Eltern, dem Fabrikanten Friedrich Murk zu. Ihre Liebe ist klein, doch ihr Pragmatismus groß: Murk soll später die Geschäfte ihres Vaters übernehmen, und er stellt eine in unruhigen Zeiten willkommene finanzielle Absicherung für die junge Frau dar.
Doch am Tag der Verlobung – Anna ist inzwischen von Murk schwanger – taucht Kragler wieder auf: schwer kriegsbeschädigt, an Körper und Seele verletzt, aber mit dem Herz am rechten Fleck. Genauer gesagt sogar am linken, denn er entwickelt Sympathien für die Spartakisten, die inzwischen auf den Straßen die Revolution ausrufen. In seinem Unglück wird er von Murk und der Familie Balicke erniedrigt, und so stürzt sich Kragler, verbittert ob des Verlusts seiner Verlobten, in den politischen Kampf. Das Gute siegt: Anna wird mehr und mehr sensibilisiert für das ekelhafte Gehabe ihres neuen Lovers und läuft wieder ihrem Andreas hinterher. Und der wendet sich schnurstracks vom politischen Kampf ab und dem Familienglück zu.
„Glotzt nicht so romantisch“, hatte 1922 im Zuschauerraum der Kammerspiele an den Wänden gestanden. Dabei hatte Brecht in seinem Kriegsheimkehrer-Drama zu einem Schluss gefunden, den man kaum anders als romantisch bezeichnen kann und mit dem er folglich zeitlebens haderte. Auch im modernen, türkisgrünen Bühnenbild der Inszenierung von Felicitas Brucker am Schauspielhaus Bochum steht der ikonische Satz nun an der Seitenwand. Doch die Gefahr ist klein: Bruckers Inszenierung ist alles andere als romantisch. Es ist eine unangenehme Aufführung, die wehtun soll. Die expressionistische Sprache des Stücks wird eindrucksvoll zum Klingen gebracht; aber auch ihre Brutalität wird erbarmungslos ausgestellt. Von Familienglück ist nicht mehr die Rede.
Brucker bedient den Brechtschen Verfremdungs-Effekt auf eigene Art. Vincent Redetzkis Murk macht sich vor seiner Braut durch merkwürdig verdrehte Turnübungen zum Affen („Ist das deine Liebeserklärung?“, fragt Anna in einem der wenigen humorvollen Momente der Aufführung); Linde Dercon gibt ihre Anna durchgängig verkrampft. Dass diese Frau tatsächlich lieben kann, ist kaum vorstellbar. Es ist wohl eher die moralischere Grundhaltung als irgendeine emotionale Bindung, die sie zu Kragler hinzieht. Die Genderverkehrung zwischen Mutter und Vater Balicke verwirrt eher, so originell Oliver Möller die verhutzelte, so ängstliche wie stereotype Mutter auch spielt.
Einleuchtender ist das zur Sprache passende expressionistische Spiel, das nahezu alle Figuren beschädigt oder gestört wirken lässt. Krieg, Aufstände, Sorgen um die politische oder finanzielle Sicherheit wirken traumatisierend und nehmen den Menschen Gelassenheit und Natürlichkeit. Frappierend wird das in der Figur des Kragler deutlich, die mit Stefan Hunstein bewusst viel zu alt besetzt ist: Statt des bezaubernden jungen Beaus, dessen Porträt an der Wand hängt, schneit an Annas Verlobungstag ein geschwächter, von Brandwunden entstellter Alter herein. Umso krasser wirkt der erbarmungslose Hass, der dem Kriegsheimkehrer entgegenschlägt. Distanzlos springt der sensationsgeile, intrigante Journalist Babusch (Jakob Schmidt) um die Gesellschaft herum und weidet sich am Unglück der anderen.
Aggressive Medien und Kriegsgewinnlertum sind eher Nebenaspekte einer Aktualisierung der Vorlage. Auch Kraglers Konflikt zwischen dem Kampf für seine Überzeugungen und der Sicherheit in der Familie erscheint angesichts sich zuspitzender Kriegsgefahr in Europa zeitgemäß. Vor allem aber erweitert Felicitas Brucker den ansonsten radikal gekürzten Brecht-Text um Beiträge der feministischen Autorin Seyda Kurt. Migrantische Interviewpartner werfen per Video schlagwortartige Sätze über deutsche Staatsraison, deutschen Wohlfahrtsstaat, Gebär- und Kriegstüchtigkeit ein, prangern die Fixierung deutschen Denkens auf die deutsche Kultur an und wollen die Reichen nicht töten, aber auf einen Dönerspieß stecken. Wieweit solche Agitation hilfreich ist für das politische Anliegen der Inszenierung, sei dahingestellt, aber natürlich ist sie eine aktuelle Entsprechung zu den spartakistischen Aufständen in Deutschland im Nachgang zur Russischen Revolution.
Überzeugender wirken da die maßvolleren Mittel, die Rolle der Frauen zu stärken. Linda Dercon schafft das auch ohne Kurts Agitprop. Sie fordert „Verbundenheit ohne Unterwerfung“, will „Kummer tauschen und keine Ringe.“ Das zunehmend selbstbewusste Auftreten der jungen Anna, die Entwicklung eines eigenen politischen Bewusstseins und die kritische Haltung sowohl gegenüber der kalten Berechnung des Murk als auch gegenüber dem erneut in den Kampf ziehenden Kragler verleihen der Figur Stärke. Die Aufführung bezieht Stellung, bleibt aber am Ende ratlos. Das dürfte kalkuliert sein. Man hat jedenfalls Stoff zum Nachdenken.